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15. Kapitel: Barsemias’ Großvater

Nach dem großen Rat im Elfenwald bespricht sich Barsemias mit seinem Großvater. Eine sehr lange Szene - die ich im Buch komplett gelöscht habe. Man erfährt vieles über die Elfen, und darüber, wie die Elfen von den Nachtalben denken. Eine Menge Hintergrund also, der den ein oder anderen Leser womöglich interessiert, aber nicht zwangsläufig wichtig ist, um den Roman zu verstehen.

next07Nach der Versammlung traf Barsemias seinen Großvater Antamas im Turabatum, einer parkartigen Anlage unweit der Stadt. Hier standen die Bäume verstreut, umgeben von Hecken und Sträuchern. Unter Elfenmagie kunstvoll verwachsene Stämme formten Bänke und Figuren und Schatten spendende Baldachine. Je nach Jahreszeit fand man hier Beeren, Früchte oder Nüsse, und die labyrinthische Anlage sorgte dafür, dass man abgeschieden wandeln konnte.
  »Was habt ihr über die Albe entschieden?«, fragte Barsemias sogleich seinen Großvater.
  Antamas war der älteste Elf und der Vorsitzende des Rates. Barsemias war sich nicht sicher, warum sein Großvater ihn zu dieser Unterredung bestellt hatte. Ging es um eine Angelegenheit des Rates, oder um etwas Privates?
  Der alte Elf lächelte. »Was sollten wir entscheiden, deiner Meinung nach?«
  »Wir müssen ihr helfen«, sagte Barsemias. »Sie hat Gulbert und Aldungan als Feind, und die sind auch gegen uns im Bunde.«
  »Und du vertraust ihr?«
  »Ich ...« Barsemias stockte. »Gibt es Zweifel im Rat?«
  Der alte Mann wiegte nachdenklich den Kopf. Barsemias sah Falten in seinen Zügen, und er wünschte sich, Antamas würde mehr auf sein Äußeres achten. Sein Großvater wirkte sichtlich gealtert, seit Barsemias vor weniger als zwei Wochen in das Tal der Blumen aufgebrochen war, und wenn man Alter sah, bedeutete das bei Elfen Krankheit und Schwäche. Barsemias wusste nicht, was er davon halten sollte, und er wagte nicht zu fragen.
  »Nein«, sagte der Alte. »In den grundsätzlichen Dingen glaube ich der Albe: Sie hat sich mit ihrem Meister überworfen. Aber was für Schlüsse ziehen wir daraus? Der Feind unseres Feindes ist unser Freund ... Das ist eine sehr menschliche Einschätzung. Man merkt, dass du lange unter Menschen studiert hast.«
  Barsemias errötete. Er hatte oft genug gehört, dass er nicht elfisch genug war. Seine Fähigkeiten hatten wenig mit der Natur und dem Leben zu tun; sie waren den meisten Elfen fremd und unverständlich. Aber dieser Vorwurf aus dem Mund seines Großvaters? Antamas selbst hatte ihn auf die bitanischen Akademien geschickt, damit Barsemias seine magischen Künste schulen konnte, zum Wohle aller Elfen .
  Antamas spürte seine Verwirrung und strich ihm über den Kopf. »Ich wollte dich nicht tadeln«, sagte er. »Man kann von der Welt lernen, aber am Ende muss man auch wieder nach Hause zurückkommen. Es ist an der Zeit, dass du wieder von deinem eigenen Volk lernst. Ich wünschte, es bliebe mehr Zeit dafür.«
  Er seufzte, bevor er weitersprach. »Ich glaube dieser Nachtalbe. Aber ich vertraue ihr nicht.«
  Barsemias öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber der Alte schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab.
  »Nein«, sagte er. »Lass mich reden. Ich tue ihr kein Unrecht, und ich unterstelle ihr nichts. Aber sie ist eine Albe. Sie mag uns heute offen gegenüberstehen, und morgen mag sie uns ebenso offen gegenüberstehen und doch ihre Meinung vollkommen verändert haben. Nachtalben sind nicht wie wir. Sie haben keine Wurzeln. Sie werden von den Strömungen des Daseins umhergespült, aber sie ändern ihre Ziele so leicht wie den Aufenthaltsort auf einer Reise.«
  »Sie hat mir geholfen«, sagte Barsemias leise. »Sie hat mir geholfen, als es nicht nötig war, und sie hat sich selbst dabei in Gefahr gebracht.«
  »Aber warum hat sie es getan?«, fragte Antamas. »Tat sie es aus Dankbarkeit, um eine Schuld zu begleichen? Tat sie es aus einer Laune heraus, aus einer Eingebung des Herzens? Oder tat sie es, weil sie sich in Zukunft einen Gewinn davon versprach? Jedenfalls tat sie es nicht aus einem Prinzip, aus einer Gesinnung heraus. Nicht aus Treue, nicht aus Achtung vor dem Leben an sich. Sie mag dich gerettet haben, doch ein andermal oder für einen anderen würde sie womöglich nicht dasselbe tun.«
  Er musterte seinen Enkel sanft unter halb geschlossenen Lidern. »Es ist schön und richtig, wenn du das Gute siehst. Es mag Gutes geben, auch in den Nachtalben, und doch sind sie anders als wir - wenn nicht böse, so doch im besten Falle berechnend, manipulierend. Sie setzen sich ihre Ziele und tun, was nötig ist, sie zu erreichen. Frafa mag sich mit uns verbünden, aber wenn es ihren Zwecken dient, kann sie sich im nächsten Moment gegen uns stellen.«
  Er hob die Hand, beschwichtigte Barsemias aufgewühltes Gemüt. »Ich sage nicht, dass sie uns verraten will. Dass ihr die Verbündeten gleichgültig sind. Aber Nachtalben sind abwägende Geschöpfe. Sie wird ihren eigenen Willen und ihre Interessen nicht einer Gemeinschaft unterordnen, wenn sie glaubt, dass ihr Weg besser ist. Und sie wird nicht sich und ihre Gemeinschaft einem höheren Zweck opfern, einem Ideal, wenn es nötig sein sollte. Für Nachtalben ist alles nur Mittel zum Zweck. Wir müssen abwägen, wie sie unserer Sache dienen kann, ohne ihr zu schaden.«
  »Das klingt ... berechnend«, sagte Barsemias. »In dieser Menschenstadt ließ die Albe uns zurück, weil sie entschied, dass sie alleine besser zurechtkommt. Aber ich habe nicht dasselbe getan, weil es keinen Grund gibt, dass Elfen wie Nachtalben handeln.«
  »Hm.« Antamas blickte Barsemias schalkhaft an. »Hast du es aus Treue getan, um den elfischen Werten zu folgen - oder hast du es aus Eitelkeit getan, weil du dieser Albe zeigen wolltest, dass Elfen ihren Weggefährten gegenüber loyaler sind?«
  »Ich ... äh.« Barsemias verstummte.
  Antamas wartete nicht auf eine Antwort. »Wir Elfen sind nicht so wankelmütig, dass wir uns den Nachtalben angleichen und in ihrer Gegenwart so handeln wie sie. Würden wir aber in ihrer Gegenwart versuchen, noch besser zu handeln, nur um sie zu beschämen, wäre das nicht auch eine Weise, in der wir uns von ihnen zum Schlechteren korrumpieren ließen?«
  »Dann«, sagte Barsemias, »sollten wir sie fortschicken.«
  »Nein«, sagte Antamas. »Wir sollten tun, was dem Wohle aller dient. Was unseren Werten und Zielen gerecht wird, ohne uns dabei schlechter zu machen oder gegen unsere Natur zu verstoßen. Dabei ist es keine Schande, wenn wir klar vor Augen haben, was wir von Nachtalben zu erwarten haben und was nicht. Wenn wir diese Albe über unsere Pläne im unklaren lassen, damit sie uns nicht verraten kann. Und wenn wir etwas anderes tun, als sie von uns erwartet.«
  »Was erwartet sie denn?«, fragte Barsemias. Er fragte sich allmählich, worum es in dem Gespräch ging. Ginge es um das, was der Rat mit Frafa vorhatte, dann hätte sein Großvater ihm einfach das Ergebnis mitgeteilt. Nein, es ging um ihn, um Barsemias. Wurde er gerade geprüft? »Müsste ich selbst wissen, was der Rat entschieden hat?«
  »Oh nein«, antwortete Antamas. »So leicht ist das nicht. Die Albe erwartet, dass wir sie hierbehalten oder sie fortschicken. Wenn wir sie überraschen wollen, müssen wir das Unerwartete tun. Wir werden sie an diesem Ort behalten und fortbringen!«
  Unwillkürlich blickte Barsemias auf den Boden. Er wusste, dass die Elfen von Porfagilia ihren Wald schon seit Jahren auf die Ablösung vorbereiteten. In dem Moment, wo Antamas die Andeutung aussprach, verstand Barsemias.
  »Ist es so weit?«, fragte er. »Sind wir schon so weit?«
  »Das Gift ist unter unseren Füßen«, sagte Antamas. »Noch ist es wenig, und die Ablösung wird nicht leicht werden. Doch auf der anderen Seite müssen wir schon seit Jahren Magie aufwenden, um den Wuchs vor den schädlichen Einflüssen von Leuchmadans Blut zu bewahren. Ja, der Boden ist so weit.«
  Er legte Barsemias die Hand auf die Schulter. »Der Boden ist so weit, aber der Wald ... noch nicht ganz. Er benötigt mehr Leben, mehr Geist. Wir haben die Wandlung nicht ganz abgeschlossen, und ich hatte gehofft, ich hätte mehr Zeit dafür.«
  »Großvater!« Barsemias blickte entsetzt zu ihm auf. »Dann nimm dir diese Zeit. Du sagst, diese Nachtalbe darf unsere Entscheidungen nicht beeinflussen. Also dürfen wir uns durch sie nicht zu einem überhasteten Aufbruch drängen lassen!«
  »Ebenso wenig dürfen wir den Aufbruch verzögern, wenn es günstig erscheint. Und es kommen gleich mehrere Gründe zusammen, die für diesen Zeitpunkt sprechen. Das Opfer von Flascale darf nicht vergebens sein - sie haben uns einen Weg zu mehr Sicherheit gezeigt, jenseits der Grenzen von Bitan. Und die Albe ist hier. Wenn wir jetzt zaudern, ließen wir eine Gelegenheit verstreichen und hätten doch nichts gewonnen als Zeit allein - einige Jahre, bis wir schließlich doch tun müssten, was getan werden muss, zu einem Zeitpunkt, der einfach später liegt, aber keine Vorteile bringt.
  Nein, mein Sohn. Die Zeit ist jetzt.«
  »Ich hätte sie nicht herbringen sollen«, sagte Barsemias tonlos.
  »Dann hättest du den Eigennutz gezeigt, den ich vermeiden will? Das Falsche getan um des persönlichen Vorteils willen?« Antamas schüttelte den Kopf. »Nein. So selbstsüchtig hättest du niemals gehandelt. Also rede es dir nicht im Nachhinein ein. Stehe zu dem, was richtig ist, so wie ich es tue.«
  »Ich werde es versuchen, Großvater.« Barsemias neigte den Kopf. »Der Rat hat mich damals ausgeschickt, der Einladung der Fatu zu folgen, weil meine Fähigkeit mir das am leichtesten macht, und ich war froh, auf diese Weise meinem Volk dienen zu können. Aber wenn meine Fähigkeit diese Folge hatte - dann verfluche ich sie.«
  »Deine Fähigkeit wird deinem Volk noch viel mehr Nutzen bringen«, sagte Antamas. »Darum wollte ich mit dir reden: Ich will, dass du zum Rat der Zaubernden stößt.«
  »Zum Rat?« Barsemias schnappte erschrocken nach Luft. »Ich bin viel zu jung. Die Gemeinschaft würde mich niemals anerkennen.«
  »Sei kein Dummkopf«, erwiderte Antamas schroff. »Ich biete dir nicht meinem Platz im Rat der Ältesten an. Du sollst nur zur Gemeinschaft der Zauberer gehören, die diesen Wald lenkt. Hier geht es nicht um Alter, sondern um Magie. Und davon hast du genug.«
  »Nicht diese Magie«, entgegnete Barsemias. Er hob abwehrend die Hand. »Sie ist nicht natürlich. Die übrigen würden meinen Eingriff in den Wald gar nicht dulden.«
  »Unfug«, sagte der alte Elf. »Deine Essenz ist so nützlich wie jede andere. Und dein Zauber, wenn du ihn in das Netzwerk des Waldes einspeisen und tausendfach verstärken lässt ... Was uns das an Möglichkeiten eröffnet! Wir könnten so vieles bewirken. Unser Volk schützen. Er könnte sogar eine Waffe sein, wenn der Krieg kommt, von dem du sprichst.«
  Barsemias schüttelte den Kopf, doch es lag keine Weigerung in dieser Geste. Er empfand eine gewisse Leere, Ratlosigkeit. Was sein Großvater von ihm forderte, konnte er sich nicht einmal vorstellen. Er konnte es auch nicht ablehnen.
  »Wenn du deine Magie über das Netz des Waldes wirken kannst, lassen sich einzelne der Zauber womöglich in Matrizen sammeln. Wir können sie anderen Siedlungen zugänglich machen. Sie blieben in künftigen Generationen unserem Volk so erhalten. Deine Magie kann uns frei machen. Ich selbst werde ihr einen Weg bereiten bis in die Wurzeln unserer Heimat, sollte das von sich aus nicht möglich sein.«
  »Wann?«, fragte Barsemias. »Wann ist es so weit?«
  Antamas blickte zum Himmel auf, der blau zwischen den lichten Kronen des Turabatums sichtbar war. »Ich weiß es nicht. Bald. Ich hätte gern ein paar Tage der Vorbereitung, doch das ist bloß eine persönliche Schwäche. Was für das Werk getan werden muss, ist getan - wenn der Rat im Einklang ist, werden wir schon morgen den Wald für die Ablösung festigen. Und du solltest dich noch heute mit deiner Schwester treffen, damit sie dich mit dem Wurzelwerk vertraut macht.«
  Barsemias nickte. Es blieb nichts mehr zu sagen.
  »Sei nicht traurig«, sagte Antamas. Er strich Barsemias über die Haare, doch sein Lächeln wirkte abwesend und er schaute zum Himmel auf. »Wir werden viel Zeit miteinander verbringen, in den nächsten Jahren. Es ist kein Abschied, nur eine Änderung der Pflichten. Für uns beide.
  Du wirst stärker in das Netz des Waldes eingebunden sein, genau wie ich. Es wird dir auch dabei helfen, deiner Verantwortung gegenüber der Nachtalbe gerecht zu werden, die du als Gast in unseren Wald gebracht hast: Sie soll nichts erfahren von unseren Plänen, von unseren Geheimnissen. Deine Aufgabe wird es sein, sie vom Netz fernzuhalten. Du hast sie kennen gelernt und sollst darum ihr Bewacher sein.«

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