Leseprobe

Leuchmadan erhielt seinen Namen von den Finstervölkern, da er ihnen das Licht von den Sternen auf die Erde brachte. Doch das war eine Lüge. Zwischen den Sternen ist es dunkel, lichtlos und kalt und ohne Leben. Wir müssen es wissen. Denn auf der Flucht vor Leuchmadan haben wir uns aufgemacht, um in den Schatten hinter der Welt Zuflucht finden - und den Ort seines Ursprungs. Dort wollen wir Leuchmadans Wesen ergründen und unsere Heimat von der Finsternis befreien.
Denn das Licht von den Sternen ist eine Lüge. Mit Leuchmadan kam die Dunkelheit zu uns, und jetzt, da wir mit der letzten Insel unverfälschten Lebens zwischen den Sternen treiben, sehen wir auch, woher sie kommt. Die Finsternis lebt im Abgrund jenseits der Welt, und Leuchmadan ist ein Teil davon.
Wir haben das Licht gesucht, aber hier werden wir es nicht finden.

Teil 1
Das verlorene Paradies

1

Der Tag der Scherben - Im 8. Jahr vor Gründung der Union eröffnete die Allianz der Freien Völker die Offensive gegen das Reich von Falinga mit einem folgenschweren Angriff. Gulbert, der Führer der Allianz, befahl den Einsatz der neu entwickelten Nukleonenwaffe gegen den stark befestigten Scherbenpass.
  Zunächst sprach alles für einen Erfolg. Die Bomben vernichteten nicht nur die Festungen der »Finstervölker«, sie zerschmetterten sogar die Berge rings um den Pass. Doch die Strahlung war so stark, so schwer die Verwüstung, dass die bereits in Opponua aufmarschierten Truppen die entstandene Bresche nicht wie geplant für ihren Vormarsch nutzen konnten.
  Der Feldzug wurde erst im nächsten Jahr wieder aufgenommen und entwickelte sich zu einem zermürbenden Stellungskrieg, wie er entlang von Leuchmadans Zinnen von je her üblich gewesen war. Der Einsatz der Bombe schien keinen Unterschied zu machen. Erste Anzeichen rings um den Pass, Veränderungen in der Vegetation, schrieb man der Strahlung zu.
  Es sollte Jahre dauern, bis man erkannte, dass die Schäden sich immer weiter ausbreiteten. Als man bemerkte, dass mehr dahintersteckte als die Auswirkungen der Nukleonenbombe, hatte das verseuchte Land sich schon bis weit nach Bitan hinein ausgebreitet.

  Aus: »Geschichte der Union«, von Tendor Istarios,
  Prof. Em. der politischen Akademie zu Opponua


1. Tag des Lichtmonds, im 282. Jahr nach Gründung der Union

Der Zug rollte den Scherbenpass hinab. Vor den Fenstern des Abteils erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine wüste Landschaft aus geborstenem Fels und grobem Geröll. Frafa, die Nachtalbe, blickte hinaus, betäubt vom gleichförmigen Auf und Ab der grauen Steinhalden und dem Schlagen der eisernen Räder auf den Gleisen.
  Bei der Abfahrt in Opponua hatte sie ein Buch gekauft, zeitgenössische bitanische Lyrik. Der Band lag seit Stunden aufgeschlagen auf ihrem Schoß. So ging es ihr seit Jahren mit jedem Buch, das sie in die Hand nahm: Irgendwann legte sie es ermüdet fort und nahm es nicht wieder auf.
  In Vordermark, dem ersten Ort hinter dem Pass, betrat ein weiterer Fahrgast das Abteil: ein Bitaner mit vorgewölbtem Bauch, einer dunklen Weste und spitzen Stiefeln. Frafa sah kurz auf, dann wandte sie sich wieder dem Fenster zu. In der Scheibe konnte sie das Spiegelbild des Mannes betrachten, ohne dass er ihren Blick bemerkte.
  Der Mensch blieb in der Türe stehen, zog umständlich sein Billett aus der Tasche, schaute zu Frafa, runzelte die Stirn, schaute auf seine Fahrkarte und dann wieder zu Frafa. Er stieß einen grunzenden Laut aus, der eine Begrüßung sein mochte, und ließ sich auf den mittleren Platz fallen. Ächzend streckte er die Beine aus.
  »Eine Unverschämtheit«, knurrte er, an niemand Bestimmten gewandt, »dass sie die Strecke durch den Scherbenpass gelegt haben. Die Eisenbahn hat Geld gespart, aber ich muss zweihundert Kilometer Umweg im Kolbenbus fahren, wenn ich mich nicht vergiften lassen will.«
  »Es ist fast dreihundert Jahre her, seit die Bomben fielen«, antwortete Frafa. »Die Strahlung war bereits harmlos, als die Schienen verlegt wurden.«
  Der Bitaner musterte sie, bis Frafa seinen Blick erwiderte. Dann sagte er: »Harmlos für finsteres Gelichter vielleicht. Darum habt ihr den Pass wohl gesprengt, um die anständigen Menschen zu vergiften.«
  Frafa schenkte dem Bitaner ein feines Lächeln. »Wenn ich mich recht erinnere«, sagte sie, »haben die Bitaner diese Nukleonenwaffen eingesetzt. Weil sie in unser Land einfallen wollten.«
Der Mensch machte eine wegwerfende Geste. »Ihr Finstervölker habt uns dazu gebracht. Wenn man wissen will, wer die Verantwortung trägt, sollte man schauen, wer den Gewinn einstreicht, so heißt es bei uns. Und wer hatte den Gewinn? Erst sickerte euer Gift in unseren Boden, und gleich hinterher kamen die Finstervölker und raubten unser Land. Eine Verschwörung vom Anfang bis zum Ende.«
  Es summte, und der Bitaner zog ein Phonofor aus der Wesentasche, eine tragbare Gesprächsverbindung. Er hielt sich mit der Linken das Gerät ans Ohr und spielte mit der Rechten an dem Zierstein, der die Lederschnur um seinen Hemdkragen schloss.
  »Ah, Medan ... Ja, bin wieder da. Vier Stunden ohne Empfang in diesen verfluchten Finsterzinnen ...«
  Frafa seufzte. Die Welt war lauter geworden, seit jeder Gossenkehrer über öffentliche Portale Zugang zum Nexus hatte. Frafa erinnerte sich an eine Zeit, als jene eigentümliche Struktur im Äther nur wenigen Magiebegabten zugänglich gewesen war - und die hatten Besseres zu tun gehabt, als Worte hindurchzuschicken und miteinander über Belanglosigkeiten zu schwatzen ...
  Nun. Frafa lächelte bei der Erinnerung. Nicht immer.
  »... zehn pro Hufe? Was glauben die, worauf sie da sitzen? Bitanische Fettweiden? Die sollen froh sein, wenn sie überhaupt einen Käufer für ihre Wüste finden!«
  Eine Minute später beendete der Bitaner sein Gespräch. Er ließ das Phon auf das Tischchen neben sich fallen, beugte sich zum Fenster und riss den Vorhang auf. »So ein Pack«, knurrte er in Frafas Richtung. »Die Menschen in diesem Land sind selbst halbe Finsterlinge geworden. Berge von Schulden, aber sind sie dankbar, wenn ihnen jemand ein paar Goldlöwen für ihren wertlosen Boden gibt? Nein! Die würden ihre Wohltäter am liebsten über den Tisch ziehen, sobald man ihnen eine Hand reicht!«
  Frafa biss die Zähne zusammen. Die Worte trafen sie tief, auch wenn sie seit sechshundert Jahren nicht mehr die Verantwortung für das Land trug. Dumm. Sie rang die Empfindung nieder und versuchte, ruhig zu bleiben.
  »Verzeihung«, sagte sie zu dem bitanischen Landaufkäufer. »Könnten Sie die Vorhänge vielleicht geschlossen halten? Das Licht verursacht mir Kopfschmerzen.«
  »Und?«, rief der Bitaner. »Was kann ich dafür? Gutes, ehrliches Sonnenlicht. Weiß auch nicht, warum sie heutzutage Finsterlinge zu ehrbaren Menschen in die Erste Klasse setzen. Soll die Bahngesellschaft doch einen Viehwagen hinter die Lok hängen, ohne Fenster, dann bleibt jeder für sich und alle sind zufrieden.«
  Der Bitaner grinste Frafa herausfordernd an. Seine Goldzähne funkelten.
  Frafa stieß die Luft zwischen den Zähnen hervor. »Sie sollten«, erwiderte sie gepresst, »Ihre Worte bedächtiger wählen. Immerhin sitzen Sie in einem Zug nach Daugazburg, in die Hauptstadt aller Finstervölker. Da werden Ihnen womöglich Leute begegnen, die solche Grobheiten übel nehmen.«
  »Na und?« Der Bitaner schob das Kinn vor. »Verklagen Sie mich doch!«
  Frafa legte die Fingerspitzen aneinander und musterte ihr Gegenüber. »Sie sollten sich mehr Sorgen um diejenigen machen, die nicht die Geduld für eine Klage aufbringen.«
  »Ah!«, sagte der Bitaner. »Sie wollen mir mit Ihrer Magie drohen? Da gibt es Gesetze gegen. Und anderes.«
  Mit einer lockeren Bewegung öffnete er die Weste. Zwei kleine Revolver mit silberbeschlagenem Griff steckten in Halftern unter den Achseln. Der Bitaner klopfte auf die Waffe an seiner linken Seite.
  »Natürlich reise ich nicht ungeschützt in die Provinz. Eine Kugel fliegt schneller als ein Zauber. Finden Sie sich damit ab, Gnädigste. Die dunklen Tage sind vorbei. Niemand fürchtet mehr die tückische Hexerei von Nachtalben. Das Zaubervolk hat sich überlebt und ist nur noch ein lästiges Ärgernis für ehrbare Leute. Wie Ungeziefer. Man wird es nicht los, aber außer dem Ekel hat man keinen großen Schaden davon.«
  Frafa trug eine Sonnenbrille, und der Bitaner konnte ihre Augen nicht sehen. Sie stellte sich vor, wie ihr Blick ihm sonst sein selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht wischen würde. Was bildete dieser Narr sich ein? Sie war Frafa, Meisterin des Lebens, und sie konnte ihm Krankheiten und zehrende Geschwulste in den Leib setzen, ohne dass man je die Spur zu ihr zurückverfolgen konnte. Was halfen ihm seine Gesetze, wenn niemand das Verbrechen sah? Was halfen ihm seine Waffen, wenn er nicht einmal bemerkte, wie sie zauberte?
  Frafa ertastete den Körper des Bitaners mit ihrem Geist. Sie fühlte sein Leben, das Innere seines Leibes. Sie spürte Gold, transmetabolische Membranen ... Erschrocken zuckte sie zurück.
  Ihr war übel.
  Sie murmelte etwas Unverständliches und floh auf den Gang. Dort lief sie einige Meter weiter, bis der Mensch sie nicht mehr sehen konnte. Dann lehnte sie die Stirn gegen die kühle Außenwand und schloss die Augen.
  Alchemistische Applikationen.
  Sie hatte das Innere des Bitaners nur allzu deutlich wahrgenommen, den Zerfall, die Krankheit. Der Landaufkäufer mochte fünfzig Jahre alt sein, und er hatte schon sein Herz und seine Leber eingebüßt. Ärzte hatten sie durch künstliche Organe ersetzt. Frafa hatte auch gespürt, wie der Unrat in den Blutgefäßen sich in seinen Arterien festsetzte, die Venen sackartig erweiterte. Verklebte Lungenflügel, poröse Adern im Gehirn, Magengeschwüre ... Frafa fühlte sich so schmutzig, als wäre sie in einen Aussätzigen getaucht.
  Frafa empfand Mitleid mit dem Mann, und sie schämte sich für ihre Wut und dafür, dass sie beinahe die Beherrschung verloren hatte. Menschen waren so kurzlebige Geschöpfe, und dieser Bitaner hatte seinen Leib bereits ebenso vergiftet, wie er seine Umgebung mit Worten verschmutzte. Er war die Mühe nicht wert.
  Sie blieb auf dem Gang, während der Zug durch die weite Ebene auf Daugazburg zuraste. Sie fühlte das Land dort draußen - ihr Land. Das schwache Leben im kargen Boden, vereinzelt etwas Vieh und ärmliche Weiler. Dörfer mit viel zu wenig Einwohnern ... Vor achthundert Jahren waren es Städte gewesen!
  Vor achthundert Jahren, als sie Kanzlerin von Falinga gewesen war.
  Die Bremsen kreischten. Wie von einer Riesenfaust gestoßen wurde Frafa durch den Gang geschleudert. Sie prallte gegen eine Abteiltür und fiel auf die Knie. Frafa raffte sich wieder auf. Der Schmerz in den angeschlagenen Gliedmaßen verging, ihre Prellungen heilten binnen eines Herzschlags. Rufe mischten sich unter das Wimmern gequälten Metalls, und Frafa hörte einen lauteren, gemeinschaftlichen Aufschrei aus den besser besetzten Wagen vorne im Zug.
  Magie zupfte am Rande ihrer Wahrnehmung, eine Aura, die nicht in diese Landschaft passen wollte. Es war Leben, ja Leben! Leben in einer Fülle, wie sie zwischen Daugazburg und dem Scherbenpass nirgendwo zu finden sein sollte.
  Frafa tastete sich verwirrt den Korridor entlang. Bevor der Zug hielt, stand sie am nächsten Ausgang und rüttelte an dem Griff. Das Geschrei aus den anderen Wagen schwoll an, und in der Ferne hörte sie ein Dröhnen wie von einem Erdbeben.
  Menschen drängten in den Gang. Frafa sah einen gut gekleideten Vampir im Hintergrund stehen, der sich mit der Hand den Hut tief ins Gesicht zog und versuchte, sich unauffällig zu verhalten. Es klickte unter ihrer Hand, und die Zugtür sprang auf. Die Menschen flohen in Panik. Frafa gab eilig den Weg frei und stieg aus.
  Reisende strömten über die Bahngleise, Menschen, Alben, Nachtmahre, vereinzelte Zwerge und Elfen. Sie eilten an den Gleisen entlang nach hinten, so weit fort von der Lok wie möglich - die großen Schwungräder der Zugmaschine waren mit Thaumagel gefüllt, und jedes Leck, jeder Tropfen, der herausspritzte und ein lebendes Wesen traf, konnte tödlich sein.
  Der Wagen Erster Klasse hing hinten am Zug. Frafa bahnte sich einen Weg nach vorn, um zu sehen, was dort vor sich ging. Blitze zuckten jenseits der Menschenmenge, es donnerte. Rauchwolken stiegen vor dem Zug auf, Erdbrocken spritzten in Fontänen himmelwärts. Explosionen oder Einschläge - ein Angriff!
  Frafa blieb entsetzt stehen. Ihr Blick folgte unwillkürlich dem Feuer und der hochgeschleuderten Krume, und sie sah den fliegenden Wald - eine riesige Insel von Grün mit einem dicken Klumpen von Mutterboden und Wurzelwerk darunter, die scheinbar schwerelos weit voraus neben den Gleisen schwebte.

Auf ihren Reisen hatte Frafa die fliegenden Waldstädte der Elfen schon oft gesehen, vor allem in Bitan. Aber niemals waren sie so tief geflogen, dass ihr Schatten die Mittagssonne verdunkelte, und noch nie hatte Frafa erlebt, dass die Elfen von dort aus Ziele in der Union angriffen!
  Langsam trieb der Wald über den Schienen auf den Zug zu. Im Schatten unter der Insel stiegen Feuersäulen auf, und das Donnern der Detonationen wurde ohrenbetäubend.
  Frafa zögerte kurz, dann lief sie weiter. Je näher sie der Spitze des Zuges kam, umso leerer wurde es um sie. Die Fahrgäste fürchteten die Lok noch mehr als die fliegende Insel und den Feuersturm, der darunter tobte. Nur ganz wenige Neugierige, Wagemutige oder Wahnsinnige blieben zurück. Viele von ihnen machten Bilder, während die Erde sich vor ihnen aufbäumte und Feuergarben auf sie zupflügten.
  Frafa verharrte neben dem schimmernden, wuchtigen Leib der Lokomotive. Die zwei halbkreisförmigen Aufbauten mit den thaumakinetischen Schwungrädern ragten hoch über ihr empor. Frafa berührte den gepanzerten Koloss, der neben ihr stand wie eine Festung und der doch leicht zur tödlichen Bedrohung werden konnte.
Der Wald war ein gutes Stück entfernt, zwei, drei Braza, schätzte Frafa. Er war so gewaltig, dass sein Flug allen Gesetzen der Natur Hohn zu sprechen schien. Aus der Ferne sah sie einzelne Bäume, Urwaldriesen, die fest im Boden verwurzelt sein sollten und ganz gewiss nicht nach Falinga gehörten!
  Ein Feuerball erglühte über dem Bahndamm, erfasste alle sechs Gleisspuren zugleich. In seinem Inneren bogen sich die Schienen, bäumten sich auf wie Riesenschlangen und verbrannten. Ein Gestank nach Rauch und glühendem Stahl lag in der Luft, Schutt und kleine Steine regneten vom Himmel. Die Waldinsel trieb scheinbar schwerelos über dem Inferno, kam näher wie vom Wind getragen.
  Frafa streckte die Sinne aus. Sie spürte das Leben der Bäume, tastete, wie die Wurzeln sich im fliegenden Erdreich verbanden, wie sie Kraft und Macht leiteten ...
  Ein neues Geräusch riss sie aus ihrer Versenkung. Ein Brausen in der Luft.
  Erst jetzt wurde Frafa bewusst, dass die hämmernden Einschläge verstummt waren. Das Land vor dem Zug brannte, und hinter dem Qualm kam das Brausen heran, zog über den fliegenden Wald hinweg ...
  Odontopter.
  Die Fluggeräte schossen aus der Rauchwolke hervor und wendeten. Ihr Rumpf erinnerte vage an eine Libelle, er war grau und lang gezogen und wies vorne eine Verdickung auf, wo der Pilot und der Antrieb untergebracht waren. Ein Windstoß blies durch Frafas Haar, als die Odontopter abschwenkten. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein.
  Die Odontopter sackten ein wenig ab, und die vier durchscheinenden Flügel begannen zu zittern. Die Piloten drosselten die Turbinen, die Flieger wurden langsamer und schwirrten bald in reinem Flügelbetrieb. Aus dem Brausen wurde ein dumpfes Summen, und in weitem Bogen nahmen die Odontopter die riesige Waldinsel in die Zange.
  Gleißende Punkte sausten von den Flugmaschinen fort und in langen Ketten phosphorstrahlend auf Bäume und Laubwerk zu. Sie zerbarsten, hundert Schritte von ihrem Ziel entfernt. Feuerfunken zeichneten die Umrisse einer unsichtbaren Blase nach, die den ganzen Wald zu umgeben schien. Die Elfen schützten ihre fliegende Insel mit einem Kraftfeld.
  Ein Feuerschweif löste sich von einem der Odontopter, schoss davon und zerbarst nach kurzem Flug ebenfalls an dem Schutzkreis. Feuer leckte über das Kraftfeld, von der Magie der Elfen auf Abstand gehalten.
  Die Odontopter feuerten weitere Raketen ab, die gegen das Schutzfeld hämmerten. Die Blase bekam Risse. Wer auch immer im fliegenden Wald unter dem dichten Blätterdach seine Magie wirkte, er konnte nicht alle Angriffe abwehren. Wo die Explosionen eine Lücke fanden, stachen Feuerlanzen hindurch. Phosphorgeschosse verschwanden zischend in den Blättern. Winzige Rauchfahnen kräuselten sich zwischen Bäumen hervor, kaum zu sehen durch den Staub und den Qualm rings um das Gleisbett.
  Da stiegen Feuerkugeln von den Bäumen auf, drangen durch das Laub, ohne Spuren zu hinterlassen. In der Luft strahlten sie heller. Sie beschleunigten und rasten knisternd auf die Odontopter zu.
  Ohne ihre Turbinen, nur im Flügelbetrieb, waren die Odontopter langsamer, aber dennoch beweglich. Sie blieben in der Luft stehen, änderten abrupt die Richtung oder flogen rückwärts, um den Lichtgeschossen auszuweichen. Die aber wirbelten herum und verfolgten ihr Ziel, bis sie langsam verblassten. Weitere Feuerbälle stiegen aus dem Wald, und bald schwirrten rings um die fliegende Insel Kugelblitze, Phosphorgeschosse, Raketen und summende Flugmaschinen in einem bizarren Tanz durcheinander.
  Frafa schaute in das blitzende Feuergefecht und presste die Lider zusammen. Rote Funken flimmerten ihr vor den Augen. Die Kriegsodontopter aus Daugazburg fanden inzwischen kaum noch Zeit, den massiven Beschuss zu erwidern, und ihre Vorräte an Raketen gingen zur Neige. Frafa musste wieder eingreifen.
  Sie duckte sich hinter die Lokomotive. Wieder griff sie mit ihrer Aura aus, warf sie mit kühnem Schwung durch den Äther hinan. Sie ertastete Baumriesen und weit verzweigte Wurzelgeflechte, die vor Magie pulsierten. Dazwischen eine Unzahl von kleinerem Leben: Farne und Sträucher und Gräser; Ranken und Blumen; Waldtiere - und Elfen, Hunderte, die Bewohner des fliegenden Waldes. Frafa erspürte sie alle.
  Einen Moment lang schmeckte sie die Eindrücke, dann schob sie alles von sich fort und konzentrierte sich auf die Bäume. Sie bildeten einen vielfach verflochtenen Organismus, der die ganze Waldinsel zusammenhielt. Ihr Wurzelwerk trug den Boden, auf dem alles wuchs. Ihre lebendige Aura leitete die Magie, speicherte sie, ließ den Wald fliegen, hielt den Schutzschild aufrecht, gab den Bewohnern Kraft für die magischen Angriffe ...
  Frafa teilte ihre eigene Aura tausendfach und ließ sie in das Wurzelwerk sickern. Ihr Geist schlich durch die feinen Bahnen in den Stämmen empor, lenkte Magie um, hielt hier einen Strom an Kraft auf, löste dort eine Verbindung. Ganz allmählich schwächte sie den Zusammenhalt des Waldes. Erde rieselte zwischen den Wurzeln hervor und fiel wie ein Sturzregen von geronnenem Blut. Geschosse von den Odontoptern, die nicht auf die Bäume zielten, sondern auf den Grund darunter, fanden ihr Ziel und rissen große Stücke Mutterboden heraus. Denn während die Elfen oben zauberten, unterhöhlte Frafa das Netz von Magie unter ihren Füßen und grub dort Lücken in den Schutzschirm.
  Dann traf sie auf Widerstand. Eine andere denkende, zielgerichtete Essenz stellte sich ihr in den Weg. Frafa wich geschickt aus, wie ein Schädling, der an den Wurzeln nagte und sich nicht fassen ließ. Immer weitere Präsenzen schlossen sich der Jagd auf sie an. Frafa zog sich zurück, bündelte Kräfte, wich hierhin und dorthin aus, zog ihre Geistarme wieder an sich. Sie spürte erst sechs, dann achtzehn und schließlich vierzig Gegner auf ihrer Fährte. Bald war Frafa überzeugt, dass die bedeutsamsten Zauberer des fliegenden Waldes an diesem magischen Duell beteiligt waren.
  Der Wald war deren Heimat und Schöpfung. Sie kannten ihn, und sie hatten das magische Geflecht, das ihn zusammenhielt, für ihre Zwecke vorbereitet. In einem erbitterten Gefecht drängten die Elfen die Nachtalbe zurück. Die Wunden, die Frafa geschlagen hatte, schlossen sich wieder, kaum dass ihr nagender Geist davon wich - der Wald und seine Magie war ein zauberisches, lebendes Geschöpf und heilte sich selbst.
  Frafas Geist kehrte nicht in ihren Körper zurück. Sie floh immer tiefer in das Elfenheim hinein. Höher und höher stieg ihre Aura die Wurzeln empor, in die Stämme, während die Elfen ihre Geistarme kappten und sie vor sich hertrieben.
  Dann saß der Kern von Frafas Sein in einem gewaltigen Stamm des fliegenden Waldes gefangen. Da riss sie alle verbliebenen Stränge ihrer Essenz wieder an sich und bündelte ihre Aura zu einem einzigen Zauber. Krankheit und Fäulnis fuhren wie ein Blitz durch das Holz, die Säfte des Urwaldriesen verkochten in einem Ansturm wilder Magie. Und draußen, in der grobstofflichen Welt, riss der Stamm auf, barst vier Schritte über dem Boden und spie faulige Splitter in das Unterholz.
  Frafa hatte den Ort sorgsam gewählt, an dem sie all ihre ausgesandten Kräfte wieder vereinigte: Im Umkreis dieses Stammes saßen die mächtigsten ihrer Gegner, und jetzt ging über ihren Leibern eine gewaltige Eiche nieder. Frafas Macht bohrte sich tiefer in den todgeweihten Baum, sie spaltete ihn bis in die Krone. Der Stamm schüttelte seine Äste ab, zerbrach in Stücke und krachte hinterher. Frafas Geist raste da schon wieder in den Stumpf hinab und weiter in die Wurzeln.
  Ihre stärksten Gegner waren abgelenkt, und die anderen konnten ihrer Macht nichts entgegensetzen. Es verging kaum ein Wimpernschlag von dem Augenblick, da der Baum fiel, bis zu Frafas Gegenangriff - nur ein Wimpernschlag, in dem die Elfen wankten und sich neu ausrichteten. In diesem Wimpernschlag war Frafa über ihnen, in ihnen, mit einer Aura, die noch aufgeladen war mit der Magie von Tod und Vernichtung.
  Frafa spürte den Aufschrei, den Schmerz ihrer Gegner. Nach einer kurzen Berührung zuckte sie zurück und war wieder im Wald. Allein. Die Zauberer, die ihr eben noch widerstanden hatten, waren nicht mehr da. Sie starben oder waren tot oder kümmerten sich um das, was Frafa in diesem einen Augenblick in ihren Körpern angerichtet hatte.
  Solange die Elfen damit abgelenkt waren, vollzog Frafa in rasender Geschwindigkeit all jene Wege nach, die sie vorher im Kampf erkundet hatte. Sie faserte auseinander, streckte sich vom Stamm bis zum feinsten Wurzelhaar. Sie löste und hemmte, sie entzwirbelte und verknotete ...
  Und dann war sie wieder in ihrem Leib bei der Lokomotive. Sie blickte auf.
  Der fliegende Wald schwebte noch dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, zwei Braza schräg vor dem Zug und einen halben Braza über dem Boden. Die Wurzeln hingen jetzt herunter wie tote Würmer, ihr feines Geflecht auseinandergerissen. Erde löste sich in großen Brocken. Die Odontopter summten wie wütende Hornissen über den belaubten Kronen, und ihre Geschosse schlugen ungehindert zwischen die Bäume.
  Stichflammen verzehrten das Blattwerk und schossen hoch über die Wipfel. Der fliegende Elfenwald brannte. Hundert Schritt hohe Stämme fielen lodernd wie feurige Säulen durch eine Wolke von Qualm und Dreck, bis nichts zurückblieb als ein gewaltiger Brand, der die Schienen unter sich begrub.
  Frafa atmete durch. Selbst auf die Entfernung spürte sie die Hitze des Feuers auf der Haut. Sie lehnte erschöpft am Führerhaus der Lok. Seit Jahrzehnten hatte sie kaum einen Zauber wirken müssen, und in dem Jahrtausend, das sie lebte, hatte sie noch nie an einer Schlacht teilgenommen, die eine solche Zaubermacht erfordert hätte.
  Ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Züge, ein Hauch von Euphorie, der gewiss ihrer Schwäche geschuldet war.
  Ein einmaliges Ereignis!
  Der Gedanken ernüchterte sie. Das hier war mehr gewesen als eine einmalige Gelegenheit, ihre Magie zu erproben. Es war ganz unerhört und beunruhigend!
  Frafa wusste, dass die Elfen mit der Politik der Union unzufrieden waren. In ihren fliegenden Wäldern flohen sie vor dem Blut der Erde, das sich immer weiter ausbreitete. Oft genug hatten sie den Menschen vorgeworfen, dass diese den Kampf gegen die Verseuchung des Bodens nicht mit der notwendigen Tatkraft führten. Frafa hatte von Anschlägen gehört, die in den bitanischen Provinzen von Elfen verübt worden waren. Von Übergriffen zwischen Elfen und Menschen; von Auseinandersetzungen über die Flugwege der magischen Wälder.
  Doch dies war das erste Mal, dass die Elfen eine ihrer fliegenden Inseln in die Lande der Finstervölker gelenkt hatten, um dort einen Terroranschlag auszuführen.
War das nun ein einmaliges Ereignis - oder ein erstmaliges? Nach diesem Wahnsinn, der hier geschehen war, wer wusste, was darauf folgen würde?

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