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Der alternative Anfang:
In der ersten Fassung des Romans sollte die Geschichte sogar aus der Perspektive der Guten anfangen. Und dafür habe ich diesen Prolog geschrieben. Wer ihn liest, der weiß vermutlich, warum ich ihn gleich wieder aus dem Buch herausgelöscht habe - und alle weiteren Szenen aus der Sicht der “Guten” dazu: Hätte ich so was in den Roman geschrieben, wäre wirklich nur eine Herr-der-Ringe-Parodie draus geworden und kein eigenständiger Roman mehr.
  Der neue Anfang, wie er jetzt im Buch zu finden ist, wirkt viel dramatischer und gefällt mir auch deutlich besser. Aber wer sich über Parodien amüsieren kann und den verzerrten Wiedererkennungswert schätzt, der wird an dieser Szene möglicherweise seinen Spaß haben.

next05Als Chaspard an diesem Abend sein Haus betrat, lag Rauchgeruch in der Luft. Ein rötlicher Schimmer flackerte unter der Wohnzimmertüre hindurch. Chaspard durchmaß die Diele mit einem Satz. Der Kamin! Hatte er das Feuer heute Morgen nicht richtig abgedeckt ...?
  Er riss die Tür auf.
  Die Holzscheite lagen sauber aufgestapelt auf dem Rost und glühten ruhig vor sich hin. Die schwach züngelnden Flammen tauchten den Raum in dämmriges Zwielicht. Eine große Gestalt stand über den Kamin gebeugt, und Metall glitzerte in ihren Händen. Bei Chaspards Eintreten richtete sie sich auf, und ihr düsterer, unruhiger Schatten wanderte durch den Raum auf den Wichtel zu.
»Gulbert«, stellte Chaspard fest und atmete erleichtert auf.
  Der Mensch am Kamin streckte sich, bis sein hoher Hut an die Decke stieß. Dann stand er mit schräg gestelltem Kopf da, während seine Kopfbedeckung zur anderen Seite hinabhing. Chaspard hätte bei dem Anblick auflachen mögen, wäre das Gesicht des Zauberers nicht so ungewöhnlich düster gewesen. Und das nicht nur, weil es halb im Schatten lag und der Kamin das Zimmer ohnehin kaum ausleuchten konnte.
  Einige Augenblicke lang schaute der Zauberer schweigend auf den Wichtel herab, und jede weitere Begrüßung erstarb Chaspard in der Kehle. Endlich schüttelte Gulbert kaum merklich den Kopf, was den prekär sitzenden Hut noch weiter aus dem Gleichgewicht brachte. Er hob den metallischen Gegenstand zwischen seinen Fingern bis auf Höhe seiner Brust an und fragte: »Weißt du eigentlich, was ich da in meinen Händen halte?«
  »Ein ... silbernes Kästchen?«, erwiderte Chaspard unsicher. »Das silberne Kästchen, das schon seit Jahrzehnten als Schmuck auf meinem Kamin steht?«
  Gulbert seufzte. »Du närrischer Wichtel. Hast du denn gar keine Ahnung, was sich in diesem Kästchen befindet?«
  Chaspard tat einen weiteren Schritt in die Stube und zog die Türe hinter sich zu. Er beschloss, die ausnehmend miese Laune seines Besuchers so gut wie möglich zu »übersehen«, und während er antwortete, ging er umher und entzündete einige Öllampen. »Gulbert, du weißt so gut wie ich, dass der Schlüssel zu dieser Kiste schon vor Generationen verloren ging. Niemand weiß, was da drin ist – aber wenn man sie schüttelt, klappert sie nicht, also ist sie vermutlich leer. Das Kästchen stand schon bei deinem ersten Besuch hier auf dem Kamin, und bei deinem letzten. Du hast es gewiss schon hundertmal gesehen! Warum machst du jetzt so viel Aufhebens darum?«
  »Und du hast die Kiste woher?«, fragte Gulbert weiter, ohne auf die Worte des Wichtels einzugehen.
  »Sie ist ein Erbstück. Seit Ewigkeiten in der Familie.«
  »Aber du Strohkopf hast dir nie etwas dabei gedacht?«
  »Was soll ich mir dabei denken?«, fragte Chaspard zurück. Seine Stimme klang ein wenig indigniert, und tatsächlich fühlte er sich beleidigt. Es zeugte nicht von guter Kinderstube, das Haus eines Freundes zu besuchen und den Gastgeber als »Strohkopf« zu beschimpfen. Obwohl, zugegeben, die Kinderstube des weißhaarigen Zauberers schon ein gutes Stück zurückliegen dürfte.
  »Es ist ein kleines, silbernes Kästchen mit schmuckvollen Ornamenten«, fügte Chaspard hinzu, nachdem er die erste Empörung überwunden hatte. »Und es schmückt den Kamin. Wir Wichtel können so etwas weder herstellen noch reparieren, und wenn ich das Schloss mit Gewalt öffne, bleibt mir von diesem uralten Familienerbstück nur ein Haufen Gerümpel. Aber wenn dich das beruhigt, werde ich es tun.«
  Chaspard zog einen kleinen Dolch aus dem Gürtel, aber Gulbert hob die Truhe ein Stück höher, außer Reichweite des Hausherrn und Besitzers. »Du wirst sie wohl kaum mit einem Dolch öffnen können«, behauptete er.
  »Auf jede andere Weise habe ich es schon versucht«, sagte Chaspard. »Das kannst du mir glauben. Für meine Dietriche und Haken ist das Schloss zu fein, und wenn wir keine Gewalt anwenden, werden wir auch nie erfahren, was in dieser Kiste ist. Was du ja anscheinend so dringend wissen möchtest.«
  Gulbert ließ sich seufzend in einen Sessel fallen, der seine Körpermaße kaum fassen konnte. Für einen Wichtel war es fast eine Couch, aber für den Menschen und Zauberer das einzige Möbelstück in diesem Haushalt, auf dem er überhaupt sitzen konnte. Er barg das Kästchen auf dem Schoß und legte schützend eine seiner knochigen Hände darüber.
  »Ich weiß bereits, was in dieser Kiste ist«, verkündete er. »Ich kann nur nicht fassen, dass sie all die Jahre so beiläufig auf deinem Kamin stand. All die Jahre ...«
  »Und?«, fuhr Chaspard ihm gereizt ins Wort. »Was ist denn nun in der Kiste? Die, nebenbei gesagt, mir gehört!«
  »So?«, fragte der Zauberer spöttisch. »Gehört sie das? Ein Erbstück, gewiss – aber wie wurde sie von deinen Vorfahren erworben? Wie gelangte dieses Ding in die Hände einer Wichtelsippe, diese Preziose, um die dereinst Könige und Fürsten der Menschen und Elfen stritten? Diese Kiste mit ... Leuchmadans Herz!«
  »Leuchmadans Herz?«, rief Chaspard ungläubig. »Du meinst Leuchmadan? Wie der finstere Herrscher?«
  »Allerdings«, bestätigte Gulbert bedeutungsschwer. »Nach der letzten großen Schlacht, als Leuchmadans sterblicher Leib vernichtet wurde, da raubten die Sieger dieses mächtigste Artefakt des Bösen, um es zu erforschen und zu gebrauchen. Denn Leuchmadans Herz versprach die Kontrolle über die Grauen Lande – und über die Kreaturen, die auch nach dem Sturz ihres Herrn noch dort umgehen und eine beständige Bedrohung darstellen. Dieser kleine Gegenstand, der so unscheinbar auf deinem Kaminsims ruhte, markiert die Frontlinie im Kampf zwischen Gut und Böse!«
  »Leuchmadans Herz.« Chaspard lachte. »Ich höre gar nichts pochen. Und außerdem – Leuchmadan! Das ist doch alte Geschichte!«
  »Nicht so alt, wie du denkst«, erwiderte Gulbert. »Leuchmadans Geist ist an das Herz gebunden und kann zurückgerufen werden, solange das Herz noch besteht. Und genau das ist, wie es scheint, bereits geschehen. Und eben deshalb mache ich jetzt auch so viel Aufhebens darum.«
  Er atmete tief durch. Sein Blick wanderte zum Kamin und verlor sich in den Flammen. Unter Gulberts Ernst wurde Chaspards anfängliche Heiterkeit zu Asche. »Im Süden regt sich eine neue Bedrohung. Es heißt, ein neuer Herrscher erhob sich in den Grauen Landen. Ein Herrscher, der nicht nur die Finstervölker einen kann, sondern der sogar von einigen Völkern der Menschen als Gebieter anerkannt wird.
  Ich musste diesen Gerüchten nachgehen. Und natürlich dachte ich dabei auch an Leuchmadan, der als Letzter eine solche Macht auf sich vereinen konnte. Ich studierte modrige Schriften, stieß dabei auf alte Zeichnungen ... auf Muster und Symbole – und zu meinem Schrecken erkannte ich sie wieder. Ich hatte sie schon einmal gesehen. Auf deiner Truhe.«
  »Aber ... aber ...«, stotterte Chaspard. »Wie kann ...?«
  Gulbert zuckte die Achseln. »Es ist nun einmal so. Was bringt es, darüber zu lamentieren, wie es dazu kommen konnte? Wir müssen uns überlegen ...«
  Er verstummte.
  Chaspard wartete eine Weile, aber der Zauberer tat nichts weiter, als sich den Hut geradezurücken.
  »Was?«, fragte Chaspard unwillig. »Müssen uns was überlegen?«
  »Still«, zischte Gulbert. »Horch?«
  Chaspard lauschte. Der nächtliche Wind raschelte vor dem Haus im Gesträuch. Tintige Schwärze drückte von außen gegen die trüben Bleiglasscheiben, in denen sich von innen das Licht des Kamins und der Lampen fing.
  »Ich höre nichts«, stellte Chaspard fest.
  »Sie sind da«, hauchte Gulbert. »Wie kann das sein? Sie ... sie müssen mir nachgespürt haben!«
  Unvermittelt sprang er auf und stellte sich mit dem Rücken zum Fenster. Hastig drückte er Chaspard das Kästchen in die Hand, öffnete die Wohnzimmertüre und drängte den Wichtel hinaus, während er selbst mit seiner riesigen Gestalt den Rückzug deckte.
  »Rasch«, flüsterte er Chaspard zu. »Nach Keladis. Du musst die Kiste nach Keladis bringen – auf der Festung ist sie erst mal in Sicherheit.«
  »Ich?«, stammelte Chaspard. »Aber ... jetzt?«
  »Zur Hintertür hinaus«, hauchte Gulbert. »Ich halte sie auf, solange ich kann.«
  Er hatte den Wichtel in die Diele geschoben und kam nun selbst hinterher. Während er den kleineren Begleiter mit einem Arm zur anderen Seite von sich fortschob, wandte er selbst sich dem Vordereingang zu.
  »Zögere nicht – jeden Augenblick sind sie hier!«
  Chaspard ließ sich vom Flüstern des Zauberers anstecken und senkte ebenfalls die Stimme. Angst wühlte in seinen Eingeweiden, nagte kribbelnd an den Rippen.
  »Aber wie soll ich nach Keladis reisen? Ohne Ausrüstung, mitten in der Nacht – ich muss Dinge zusammenpacken ...«
  »Hast du keine Freunde?«, fragte Gulbert über die Schulter zurück. »Geh fort von hier und triff anderswo deine Vorbereitungen für die Reise.«
  Chaspard zögerte nicht länger. Er folgte dem verwinkelten Flur und stürmte durch das Haus, das große, alte Haus seiner Familie. Mit beiden Armen hielt er das Kästchen umklammert, das Erbstück, das zumindest ebenso lang schon zu seiner Familie gehörte wie dieses Haus. Und das ihm mit einem Male doch so unsagbar fremd vorkam. Das altvertraute Heim wirkte plötzlich ebenso fremd, und bedrohlich, wie auch der düstere Garten, als er fahrig die Hintertüre öffnete.
Er glaubte, Geräusche von vorne zu hören. Ein Rauschen. Ein Knacken.
  Chaspard blickte sich nicht um, während er zwischen den Gemüsebeeten den Hügel hinablief und im Hain verschwand.

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