seitenkopf20zum Künstler

Wito, der Gnom, versammelte seine Schar. Sie gaben eine seltsame militärische Einheit ab: Gnome reichten einem Menschen nur bis zur Leiste, und der Kopf auf dem dürren Leib war so groß, dass man glauben mochte, sie müssten bei jedem Schritt vornüberkippen. Ihre Haut war dunkel. Das schwarze Haar saß in schütteren Büscheln über der hohen Stirn und sah aus wie eine Wiese, auf der die Ziegen die besten Streifen abgeweidet hatten. Sie alle trugen zweckmäßige Kleidung in Dunkelgrau, Braun oder mattem Grün. Vor der nächtlichen Berglandschaft waren sie fast nicht zu sehen.
»Ihr wisst, worauf es ankommt«, schärfte Wito seinen Kampfgenossen ein. »Wir schleichen zum Eingang der Höhle. Dort nehmen wir unsere kleine Gestalt an und huschen an den Wachen vorüber. Im Inneren der Grotten schätzen wir die Stärke des Feindes ab und suchen nach weiteren Zugängen. Keine Heldentaten.«
Er blickte auf Darnamur, einen Gnom in fleckiger schwarzer Lederweste und mit besonders kurz geschorenem Haar. Als der das Auge seines Hauptmanns auf sich ruhen fühlte, protestierte er: »Heldentaten? Da schaust du aber den Falschen an!«
Wito seufzte. »Du hast recht. Heldentaten wäre wohl der falsche Ausdruck. Aber denk daran: Wir sind nur Kundschafter. In diesen Grotten steckt eine ganze Kompanie der Menschen aus Bitan, und ein jeder von ihnen ist doppelt so groß wie einer von uns. Durch voreilige Aktionen würden wir sie warnen und all unsere Bemühungen zunichte machen.«
 Er holte einige blasse schmale Gegenstände aus dem Rucksack und verteilte sie an seine Leute. Sie waren spitz und scharf und ein gutes Stück länger als der Arm eines Gnoms. Ein Ende war als Griff mit Lederriemen umwickelt.
»He«, sagte Darnamur. »Das sieht ja aus wie ein Messer! Wenn ... es nicht aus Knochen wäre.«
Wito lächelte. »Diese Messer sind nicht so gut wie Waffen aus Stahl. Aber wir können sie mitnehmen, wenn wir unsere Größe ändern.«
Sein Blick wanderte von Darnamur zu Nidhogir. »Und ich hoffe, diesmal denken alle daran: Die Aura unseres Zaubers wirkt nur auf lebende oder einstmals lebende Dinge. Wenn wir uns also klein machen wie die Käfer, will ich nicht wieder erleben, dass jemand zappelnd unter einem hübschen Silberknopf liegt, den er unbedingt an seiner Jacke haben musste und dann vergessen hat.«
Nidhogir blinzelte verlegen unter seiner Lederkappe hervor. Seine Finger strichen über die Jacke und tasteten nach dem Inhalt seiner Taschen.
»Alle Ausrüstung, die wir nicht brauchen«, fuhr Wito fort, »lassen wir hier zurück. Wir gehen in Zweiergruppen. Jeder ist für seinen Begleiter verantwortlich. Ich nehme Skerna mit, Darnamur geht mit Nidhogir ...«
»Augenblick mal«, unterbrach ihn Darnamur. »Sollten wir dann nicht alle Gruppen so einteilen, dass ein besserer mit einem schwächeren Gefährten geht? Damit jede Zweiergruppe halbwegs ausgeglichen ist?«
Wito nickte. »Im Prinzip hast du recht. Aber da ich vorangehen und auch die gefährlichen Abstecher übernehmen werde, möchte ich keinen unerfahrenen Begleiter dabei haben.«
»Abstecher«, wiederholte Darnamur mit unterdrücktem Kichern und breitem Grinsen. »Haha, der ist gut, verstehst du? Von abstechen!«
Wito verdrehte die Augen. »Also gut. Skerna und ich übernehmen die Vorhut. Die anderen Gruppen folgen uns ...«

Die Gnome näherten sich dem Eingang und nutzten jede Felsspalte, jeden Stein als Deckung. Die Höhle, in der sich die Krieger aus Bitan verschanzt hatten, war fast uneinnehmbar. Eine größere Schar konnte sich nicht unbemerkt nähern; und nur weil die Gnome so klein waren, konnten sie einen Teil des Weges in ihrer normalen Gestalt zurücklegen.
Schließlich erreichten sie die letzte sichere Deckung. Darnamur hielt Abstand zu seinem Begleiter, dann schloss er die Augen und konzentrierte sich. Wer wusste schon, was Nidhogir diesmal wieder vergessen hatte?
Die Wandlung vollzog sich in einem Augenblick. Darnamur spürte wenig davon, allerdings wusste er, wann der Vorgang abgeschlossen war. Er öffnete die Augen wieder. Die Welt sah mit einem Mal ganz anders aus.
Zuvor kaum wahrnehmbare Bodenwellen bildeten plötzlich eine Hügellandschaft; zuvor unbeachtete Kiesel wurden zu gewaltigen Findlingen, hinter denen sich ganze Armeen verbergen konnten.
Die bis dahin so ruhige Nacht war erfüllt von vielfältigen Lauten. Es raschelte und knirschte, und die Luft vibrierte von den Rufen zahlloser Insekten. Nidhogir blickte sich mit großen Augen um, und auch Darnamur brauchte eine Weile, bis er sich wieder zurechtfand.
»Komm«, sagte er schließlich und folgte entschlossen einem Weg, der in Richtung des Höhleneingangs führte.
Sie kämpften sich durch struppigen Bewuchs – durch dürre Grasbüschel, die auf dem steinigen Boden noch gediehen, oder an trockenen Sträuchern vorbei. Einmal kreuzten zwei große Käfer mit zitternden Fühlern ihren Weg, und die beiden Gnome blieben stehen und warteten, bis die Tiere zwischen den Steinen verschwunden waren. An einer anderen Stelle entdeckte Darnamur eine Fangheuschrecke, und sie machten einen großen Bogen um sie.
Dann kamen sie an den steilen Hang, der zum Höhleneingang führte, und kletterten mühsam hinauf. Um sich herum hörten sie Steinschläge niedergehen, und auch sie selbst traten Steine und Geröll los, die polternd und prasselnd hinunterrollten.
Darnamur zuckte bei jedem Laut zusammen, aber was für sie ein Steinschlag war, war für die großen Wesen nur ein wenig rieselnder Sand. Die menschlichen Wachen im Höhleneingang würden nichts davon bemerken.
Oben am Hang gab es mehrere Spalten im Berg, und jede konnte der gesuchte Eingang sein. Darnamur fluchte. Wenn sie in jeden finsteren Winkel erst hineinspähen mussten, bis sie die richtige Öffnung fanden, waren sie morgen früh noch unterwegs!
Nidhogir zupfte ihn am Ärmel und machte ihn auf einen Gnom aufmerksam, der in einiger Entfernung auf einem kleinen Felsvorsprung stand und die Richtung zur Höhle wies. Darnamur ging schneller.
Bald nahm er sie vor sich wahr: Menschen. In seiner jetzigen Gestalt kamen sie ihm vor wie riesige Ungeheuer. Die Gegenwart der gewaltigen Leiber war erdrückend, ihr Geruch und die Wärme, die von ihnen ausging, erfüllte alles um sie herum, jede Bewegung ließ den Boden erzittern. Irgendwo in der Ferne sah Darnamur ein unruhiges Licht, Fackeln, die tief in den Grotten brannten, während die Wachen selbst im Dunkeln verharrten.
Darnamur atmete schwer. Es war beklemmend, so klein zu sein und den Feind so groß über sich zu spüren. Jetzt bin ich für sie unsichtbar, sagte er sich immer wieder, und ich kann jederzeit wieder meine große Gestalt annehmen und sie überrumpeln. Dann wird man sehen, wie sterblich sie sind. Aber dieser Gedanke war nur ein schwacher Trost. Darnamur umfasste den Griff seines Knochenmessers.
Dann spürte er einen der Wachposten unmittelbar über sich. Vorsichtig schlichen die beiden Gnome an der Wand entlang, nutzten jede Rille und jeden Spalt. Die Menschen würden die insektengroßen Eindringlinge in dem dunklen Gang kaum entdecken, aber sie konnten aus Versehen auf sie treten.
Plötzlich hörte Darnamur einen erstickten Aufschrei. Er hatte seinen Begleiter kurz aus den Augen verloren und bewegte sich auf das Geräusch zu.
»Nidhogir?«, flüsterte er, räusperte sich dann und verzog das Gesicht. »Nidhogir?«, rief er entschlossener. »Alles in Ordnung?«
»Ich bin hier«, flüsterte Nidhogir zurück. »Hilfe!«
Darnamur ging der Stimme nach. »Du kannst ruhig normal sprechen«, herrschte er den Gefährten an. »Die Menschen werden es nicht mitbekommen. Oder hast du schon mal einen Käfer reden hören?«
Aber Nidhogirs Stimme klang immer noch erstickt. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich glaube ... ich habe ein Problem.«
Dann war Darnamur bei ihm und stieß erschrocken die Luft aus. »Oh, Nid!«, entfuhr es ihm.
Nidhogir zog einen Arm zurück und strampelte, doch das Netz, an dem er hing, zog sich mit jeder Bewegung fester um ihn zusammen.
»Beweg dich nicht«, zischte Darnamur. Sein Blick huschte über die Höhlenwand. Die Spinne verbarg sich im Schatten, aber Gnome konnten auch im Dunkeln gut sehen. Das ferne Licht der Fackeln reichte aus, um zumindest im näheren Umkreis alle Einzelheiten zu unterscheiden.
Es hätte auch für Nidhogir ausreichen müssen, um das Netz zu sehen. Darnamur ballte die Fäuste und spürte dabei den Messergriff in der Rechten.
»Nid!«, sagte er scharf, und sein Begleiter erstarrte. Angsterfüllt blickte er ins Leere und wagte nicht einmal mehr, den Kopf zu drehen.
»Wo ist sie?«, wisperte er.
»Sie zögert noch«, flüsterte Darnamur zurück. »Du bist wohl ein ungewohnter Brocken für sie, und sie traut sich nicht heran.«
Er bemühte sich, seiner Stimme einen lockeren Klang zu geben. Es war eine kleine Spinne, kleiner als ihre Beute. Aber jede Bewegung von Nidhogir im Netz mochte sie zum Angriff reizen. Womöglich reichte schon der Klang ihrer Stimmen.
»Ich mache mich groß«, sagte Nidhogir.
»Nein!«, befahl Darnamur.
»Aber Dar«, flehte Nidhogir. »Was können wir sonst tun?«
Ja, was sollten sie tun? In ihrem Netz war die Spinne beweglich und schwer zu erreichen, so dass sie auch mit dem Messer nicht gegen sie ankommen würden. Aber wenn Nidhogir jetzt seine Größe änderte, stünde unvermittelt ein Gnom zwischen den Beinen der Wachen. Das würde die Menschen ohne Zweifel überraschen, und vielleicht konnten sie in dem Durcheinander alle entkommen. Aber ihre Gegner wären dann gewarnt und der Auftrag wäre gescheitert.
»Wir müssen nachdenken«, sagte Darnamur.
»Gib Wito Bescheid«, schlug Nidhogir vor. »Der weiß bestimmt einen Rat.«
»Er ist zu weit weg«, sagte Darnamur. Er blickte sich verzweifelt um. Wito ... »Was würde Wito tun? Er wüsste bestimmt etwas, aber wir müssen jetzt allein darauf kommen.«
»Ja«, flüsterte Nidhogir. Seine Stimme klang verzweifelt. »Was würde Wito tun?«
Darnamur spähte ins Dunkel. Irgendwo dort war ihr Anführer mit seiner Begleiterin unterwegs. Ja, Darnamur wusste, was Wito tun würde – aber Wito war nicht hier, und er, Darnamur, musste die Entscheidung treffen.
»Was nun?«, fragte Nidhogir. Er wandte mühsam den Kopf und versuchte, seinen Gefährten auszumachen. Die Spinne tastete sich ein Stück aus ihrem Spalt heraus, und der Gnom spürte, wie das Netz erbebte. Er wand sich und riss an den Strängen, die ihn banden.
»Ich mach mich jetzt groß«, stieß er hervor. »Es gibt keinen anderen Ausweg.«
»Nein!«, rief Darnamur. »Ich weiß jetzt, was Wito tun würde.«
Nidhogir blickte ihm vertrauensvoll entgegen. Darnamur hob das Knochenmesser und trat auf ihn zu.
»Dar«, sagte Nidhogir zweifelnd. »Glaubst du wirklich, du kannst mit der Klinge Spinnfäden durchschneiden?«
»Nein«, sagte Darnamur und stieß seinem Begleiter das Messer ins Herz.
Es war ein präziser Stich, und Nidhogir starb sofort. Ein Zittern lief durch das Netz, als sein Körper erschlaffte. Rasch, aber ohne Hast trat Darnamur zurück und behielt die Spinne im Auge. Diese saß wieder regungslos da, als würde sie abwarten.
Darnamur wischte seine Waffe ab, doch das Blut ließ sich nicht restlos von der leicht porösen Oberfläche entfernen. Schließlich setzte Darnamur seinen Weg fort. Er war jetzt auf sich allein gestellt, aber er hatte immer noch einen Auftrag zu erledigen.
Was würde Wito tun? Darnamur hatte nicht lange nachdenken müssen, um darauf zu kommen, was ihr Anführer unternommen hätte. Wito hätte Nidhogir ohne Zögern befohlen, seine ursprüngliche Größe anzunehmen – weil das der einzige Weg war, wie der Gnom hätte entkommen können.
Solange die Möglichkeit bestand, den Kameraden zu retten, hätte Wito alles dafür getan. Aber damit hätte er die Mission verraten. Gnome waren Kundschafter, aber Kundschafter waren auch Krieger, und Krieger konnten in der Schlacht fallen. Wito wusste das, aber er würde keinen seiner Leute bewusst opfern.
Deshalb war es Darnamur zugefallen, die Mission zu retten. Wito war ein guter Anführer, aber manchmal musste man Opfer bringen, um an sein Ziel zu kommen. Darnamur hatte gewusst, was sein Anführer getan hätte. Aber er war allein gewesen und hatte eine bessere Entscheidung getroffen.
 

[Home] [Buch] [Leseprobe] [Deleted] [Additional] [Autor] [Quiz] [Karte] [Gnomen] [Figuren]