libelle_klein

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next05Prolog

Hinrichtungen fanden stets im Abenddämmer statt.
  Das Schafott stand auf dem Drauzwinkel, dem kleinen Platz hinter dem Tor des Blutes. Die hohen Stadtmauern und die verwinkelten Türme von Daugazburg schnürten den Platz ein wie ein zu eng gebundener Gürtel. Der freie Raum konnte die Menge kaum fassen, die sich heute für das Schauspiel versammelt hatte.
  Immer mehr Volk drängte aus den verschatteten Gassen zwischen den Gebäuden heran, es stand auf den Galerien, die sich um Türme und Erker wendelten, und es belagerte die Brücken und Hochstraßen dazwischen. Wer Zugang zu den Wehrgängen hatte, suchte sich dort einen Platz. Goblinkrieger beugten sich über die zur Stadt hin ungesicherte Kante des Außenwalls und spähten hinab. Sie schoben Gnomenkundschafter die Treppen hinunter, wo diese auf den unteren Stufen stehen blieben oder in kleiner Gestalt an den Steinen emporkletterten, um sich einen besseren Platz zu suchen.
  Dennoch blieb es erstaunlich ruhig. Auf dem Schafott stand ein Nachtalb, mit dem olivgrünen rundlichen Gesicht und den feinen Zügen seines Volkes. Er verlas mit monotoner Stimme die Anklage in ein bleiernes Schweigen hinein. Nur die Goblins auf den Wällen blieben von der Stimmung unberührt. Ab und zu johlten sie oder warfen Abfälle unter die versammelten Massen. Zwei von ihnen flogen selbst hinterher, als die Unteroffiziere für Ordnung sorgten. Blutend und zerschlagen blieben sie auf dem Pflaster liegen, und einer zerschmetterte beim Aufprall noch einen Menschen, der hinten in der Menge gestanden hatte.
  Sie waren eben Goblins. Niemand erwartete etwas anderes von ihnen, und niemand scherte sich um ihren Tod oder um den Tod eines menschlichen Sklaven. Ungerührt blieben alle Augen auf das Schafott gerichtet. Allenfalls die Zuschauer auf den schlechten Plätzen unmittelbar unter der Außenmauer schauten immer wieder misstrauisch nach oben.
  Neben dem Herold, der die Anklage vortrug, stand ein Gnom in Ketten: Wito, der Held des letzten Krieges. Bewahrer von Leuchmadans Kästchen. Der Hüter des Lebens in Daugazburg. Zwölf Jahre zuvor hatte er die Verwüstung der Grauen Lande verhindert. Geliuna, die Gebieterin von Daugazburg und eine der letzten Feien, hatte ihn deshalb zum Geheimen Rat erhoben. Jetzt war er tief gestürzt und in Ungnade gefallen.
  Den Blick starr auf das Pergament gerichtet, las der Herold von Verrat und Verschwörung gegen die Herrin der Nacht, von Umsturz und Ketzerei wider Leuchmadans Geist. Hinter ihm stand ein spilleriger Kobold, der dem Alb gerade bis zu den Knien reichte und damit noch kleiner war als der verurteilte Gnom. Er unterstrich die Worte, indem er an den richtigen Stellen eine blecherne Rassel schlug. Fast an den richtigen Stellen. Wann immer er zu früh schlug und die letzten Worte des Herolds übertönte, oder zu spät, wenn der Herold schon wieder fortfahren wollte, bedachte der den Kobold mit einem bösen Blick.
  Die Menge nahm die Anschuldigungen gegen den Verurteilten schweigend auf.
  Fünf Reihen schwer bewaffneter Goblins, krummbeinig, langarmig, bildeten einen schützenden Ring um die Richtstätte. Ihre Gesichter zeigten eine Mischung aus menschlichen und äffischen Zügen. Ihre tief liegenden Augen blitzten tückisch über der flachen Nase, und sie fletschten die Raubtierzähne.
  Die Menge drängte gegen sie. Das Schafott ragte auf wie eine Insel im feindseligen Meer. Auch wenn die Zuschauer ruhig blieben, lag etwas Bedrohliches in dieser Stille. Die Goblins rückten dichter zusammen und hoben die Schilde.
  Die untergehende Sonne zeichnete einen dunkelroten Streifen an den westlichen Himmel. Die Türme der Stadt, wo sie über die Wälle hinausragten, glühten wie in Blut getaucht. Die Gesichter tief unten lagen im Schatten. Etwas regte sich in der Menge.
  Die Goblins fassten die Speere fester. Einer schlug nach einem Schaulustigen in der vordersten Reihe und zog ihm einen blutigen Striemen über die Wange. Die Umstehenden zischten unwillig. Einige Zuschauer wichen zurück, andere drängten umso fester gegen den Schildwall. Die Reihen der Goblins wurden mit einem Ächzen zusammengepresst.
  Weiter hinten in der Menge bildete sich eine Gasse. Eine hochgewachsene Gestalt trat zwischen die Zuschauer, und alle machten eilig Platz. Der Scharfrichter war gekommen. Langsam schritt er auf das Schafott zu und hinterließ einen schmalen, freien Pfad hinter sich, eine schnurgerade Wunde, wie mit dem Messer über den Platz gezogen.
  Die Schwarze Fei hatte viele Henker, doch nur einer war der Scharfrichter. Er brauchte keinen anderen Namen. Der Scharfrichter war doppelt so groß wie ein Goblin, aber spindeldürr. Seine überlangen Arme lagen seitlich an seinem Körper unter der formlosen Kutte, von Ärmeln oder Ärmelfalten umspielt; die Finger waren knochige Klauen.
  Die Nase des Scharfrichters wirkte wie plattgedrückt; der Mund darunter war zugenäht. Die blassen runden Augen glichen denen eines Fisches, fest gegen das dicke Glas eines Aquariums gepresst. Seine Haut war graugrün und kahl. Mancher hielt den Scharfrichter für einen Untoten, andere sahen einen Dämon in ihm oder eine von Leuchmadan geschaffene Kreatur. Er verrichtete seinen Dienst schon so lange, wie der älteste Nachtalb zurückdenken konnte, und er vollstreckte die Urteile der Herren von Daugazburg – gleichgültig, wer gerade auf dem Thron sitzen mochte.
  Er kam bei dem Schafott an. Der Wall aus Schilden teilte sich. Gemessenen Schrittes stieg der Scharfrichter die Stufen empor.
  Wito der Gnom blickte auf. Er war abgemagert. Sein Leib sah aus, als könne er den übergroßen Gnomenkopf kaum tragen. Schmerz und Entbehrung zeichneten sein Gesicht. Der Kopf war an vielen Stellen kahl, die dunkle Haut wund. Ein Arm war unnatürlich krumm, wie gebrochen und falsch eingerichtet. Wito trug Ketten an Händen und Füßen.
  Er schaute vom Scharfrichter zur Menge. Seine Augen waren trüb. Er versuchte, den Rücken zu straffen, zuckte zusammen und erschlaffte wieder. Wito senkte den Kopf.
  Der Scharfrichter baute sich vor ihm auf, eine verkrümmte Gestalt wie eine unheimliche alte Weide. Seltsame Wölbungen beulten die Kutte aus, als wäre das Kleidungsstück ein Sack voll unförmiger Klumpen. Unter dem Saum schauten bloße Füße mit überlangen Zehen hervor, die in ebenso schwarzen Klauen ausliefen wie die Hände.
  Der Scharfrichter starrte auf den Gnom. Ein Schatten zog über seine Augen wie ein unsichtbares Lid. Die vernähten Lippen zuckten, die Klauenhände regten sich verhalten.
  »Und für seine Verbrechen soll Wito, der Gnom, verbannt werden in das Labyrinth des Schreckens«, beschloss der Nachtalben-Herold seine Rede. »Im Namen Geliunas, der Schwarzen Fei, der Herrin von Daugazburg und der Grauen Lande, Statthalterin von Leuchmadan bis zu Seiner Rückkehr.« Er wandte sich dem Scharfrichter zu. »Ihr möget das Urteil nun vollstrecken.«
  Mutwillig schlug der Kobold die Rassel, so dass ihr Klang die letzten Worte des Herolds fast verschluckte. Das Rot am Himmel über den Mauern gerann zu einem dumpferen Ton. Die Fledermäuse von Daugazburg verließen ihre Höhlen und kreisten lautlos über dem Platz. Wie lebende Rauchwolken flogen sie ineinander und zerstreuten sich wieder. Manche flatterten ins Umland hinaus, um sich zwischen den Feldern und Hainen ihre Beute zu suchen, andere tauchten zurück in das Gassengewirr und kamen den Aufträgen ihrer Herren nach.
  Der Scharfrichter breitete die langen Arme aus. Er öffnete seine Klauenhände, dann spreizte er die Finger. Die Krallen des Scharfrichters rissen ein Loch in die Wirklichkeit, und die Menge hielt den Atem an.
  Eine Schwärze tat sich auf, die keine Schwärze war – kein Schatten, sondern ein fremdes Licht, so unfassbar, dass es alles Sehen auslöschte. Selbst die nachtsichtigsten unter den Finstervölkern blickten blind in diese Dunkelheit, die allmählich zu einer Fläche auswuchs, zu einer Scheibe ohne Tiefe. Dies war das Tor zum Labyrinth des Schreckens, das allein der Scharfrichter öffnen konnte.
  An diesen Ort verbannten die Herren von Daugazburg ihre Feinde, und die meisten von ihnen fanden dort unter unvorstellbaren Qualen den Tod. Sie wurden in einer unwirklichen Umgebung von Ungeheuern gejagt und von Entbehrungen gequält, bis sie zugrunde gingen. Nur wenige kehrten zurück.
  Wem es gelang, der war an Leib und Seele gebrochen. Trotzige Rebellen und stolze Fürsten kamen als unterwürfige Diener wieder, bloße Schatten ihrer selbst. Sie überlebten nur so lange, wie sie den Herren von Daugazburg als Beweis ihrer Macht dienen konnten.
  Tausende Augenpaare, die im Schatten unter den Türmen glänzten, schlossen sich nun oder wandten sich ab. Die wabernde Scheibe aus Unlicht war mehr zu fühlen als zu sehen, ein steter Sog, der an jedem zerrte. Wer den Blick nicht gleich abwendete, dem schien es die Augäpfel aus den Höhlen zu ziehen.
  Zwei Goblins traten vor. Sie packten Wito den Gnom und warfen ihn zu dem Scharfrichter hin. Sogleich fuhren sie wieder herum und wichen zwei Schritte zurück, als fürchteten sie, mit dem Verbannten verschlungen zu werden.
  Der Scharfrichter hielt die Arme ausgebreitet wie zu einer Umarmung. Der Gnom schlug vor ihm auf den Boden, stolperte in seinen Ketten weiter, kippte nach vorne ... und verschwand. Darauf klatschte der Scharfrichter einmal scharf, und das Unlicht erlosch.
  Die Zuschauer blickten wieder auf. Sie starrten zum Schafott empor. Das Labyrinth des Schreckens. Niemand in der Menge wusste wirklich, was für ein Ort sich hinter dieser Bezeichnung verbarg. Doch jeder kannte seine Bedeutung: Es war wie der Tod, nur mit dem Grauen vorweg, an einem Ort jenseits der Welt und verloren.
  »Das Urteil wurde vollstreckt«, verkündete der Herold. »Wito der Gnom ist verbannt, und sein Schicksal soll allen zur Warnung dienen.«
  Der Scharfrichter verschränkte die Hände und schickte sich an, von dem Podest zu treten. Der Kobold sprang hinter dem Nachtalb umher. Er schlug die Rassel, und der Herold zog die Augenbrauen zusammen und starrte missbilligend in die Menge.
  Da ertönte ein leises Stimmchen, von so weit unten aus der Masse an Köpfen und Gesichtern, als hätten irgendjemandes Füße plötzlich sprechen gelernt. »Pfui!«, rief die Stimme. »Schande! Nach allem, was Wito getan hat! Die Schwarze Fei wäre nicht an der Herrschaft ohne ...«
  Das Weitere ging unter im Gemurmel. Alle sprachen durcheinander, es gab Meinungen und Widerworte, und mancher griff die Rufe auf: »Pfui!« und »Schande!«
  Schreie mischten sich in das Raunen. Bewaffnete Goblins tauchten auf. Eben noch waren sie von Umstehenden verdeckt gewesen, nun verschafften sie sich Platz. Eilig wichen die Schaulustigen zurück, als die Krieger ihre Waffen schwangen. Sie bahnten sich einen Weg zu der Stelle, wo die erste Stimme erklungen war. Auch die Wachen um das Podest setzten sich in Bewegung und trieben die Menge auseinander.

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