libelle_klein

Leseprobe

1. Teil
Revolution

next05Ein Urwald entspross dem Mauerwerk und füllte das ganze Zimmer. Das Pult stand mitten im Dickicht. Blätter umrankten die Bücherregale, Stämme krümmten sich zu Fächern und Luftwurzeln hingen von der Decke tief in den Raum hinab. An einigen davon waren Dinge befestigt, die der Bewohner dieser Räumlichkeiten rasch griffbereit haben wollte – Schriftrollen, Werkzeuge und Präparate.
  Inmitten des zugewucherten Gemachs saß der Nachtalb an seinem Schreibpult. Er grub die Finger in das Pergament und knüllte das Blatt zusammen. Dann stand er unvermittelt auf und ging zum Fenster.
  Hier kam er nicht weiter. Der Verlauf seiner Forschungen erforderte eine Exkursion! Aber jetzt? Raschelnd umschmeichelte das Grün seine Schultern, während er den Raum durchquerte.
  Eine kreisrunde Öffnung im Pflanzenwerk ließ das Fenster frei. Wie ein Auge blickte es hinaus in eine Welt, die unterschiedlicher nicht hätte sein können: In Daugazburg gab es unter freiem Himmel nicht einen Baum oder Strauch. Der Nachtalb legte die Hand auf die Scheibe. Die Facetten, die eben noch das Licht gebündelt und einen blassen Strahl auf sein Pult gelenkt hatten, glätteten sich und wurden klar, bis er schließlich ungehindert hinausschauen konnte.
  Die Sonne sank dem Horizont entgegen. Hier, vom höchsten Stockwerk seines Turms aus, sah er den orangeroten Ball eben noch über den Stadtmauern stehen. Er blinzelte. Die Sonne war den Nachtalben kein Freund. Sie brauchten Licht zum Lesen wie jedes andere Geschöpf, doch die Alben bevorzugten den Mond dafür – oder ein Fenster aus amorphem Glas, das das Sonnenlicht filterte und angenehm dämpfte.
  Die Stadt wirkte ruhig. Bald würden Lampen und Fackeln entzündet werden, wenn das reiche Nachtleben von Daugazburg seinen Anfang nahm. Der Nachtalb hier oben war diesem Treiben entrückt. Kein Laut drang in sein Studierzimmer. Er starrte in die Gassen hinab und nahm in der Ferne Bewegung wahr.
  Der Nachtalb kniff kurz die Augen zusammen, dann nickte er. Er hatte davon gehört: Ein Gnom sollte dort gerichtet werden. Diese Neuigkeit war in den letzten Tagen ein Stadtgespräch gewesen. Vor wenigen Jahrhunderten hätte niemand ein solches Ereignis der Erwähnung wert befunden. Wen kümmerte das Schicksal eines Gnoms?
  Ja, noch vor einem Jahrhundert hätte Geliuna sich nicht die Mühe gemacht, eine so mindere Kreatur in das Labyrinth des Schreckens zu verbannen.
  Es war ein Zeichen dafür, wie schwach die Herrin war. Leuchmadans Rückkehr hatte ihre Herrschaft erschüttert, und sein neuerlicher Sturz das ganze Reich. Aber dennoch – so viel Aufhebens um einen Gnom!
  Unmöglich konnte er unter diesen Umständen reisen. Umstürze standen bevor. Der Nachtalb hielt sich vom Treiben bei Hofe fern, doch es gab Neider. Und er hatte einiges zu verlieren. Niemand wusste, was die nächsten Monde brachten ...
  Er ging an sein Schreibpult zurück und entfaltete das alte Pergament wieder, suchte in den Zeilen nach neuen Erkenntnissen. Dann holte er einen Stoß feiner Blätter aus einem Seitenfach und machte sich Notizen.
  Als die Sonne endgültig vom Firmament verschwand, entzündete er den talggefüllten Menschenschädel, der ihm als Leuchter für die Stunden des Übergangs diente. Dann tastete er nach dem silbergefassten Glasröhrchen um seinen Hals. Ihm blieb noch ein wenig, was er hier in der Stadt, in seinem Turm erledigen konnte. Doch wenn die Zeiten ruhiger wurden, musste er aufbrechen und seine Theorien vor Ort überprüfen. Schon seit Jahrzehnten schob er diese Reise von sich her. Und in seinem Herzen wusste er auch den Grund dafür: Ob er nun Recht behielt oder nicht – nach dieser Exkursion wäre sein Leben nicht mehr wie vorher.
  Und der alte Nachtalb schätzte Veränderungen nicht.

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