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Leseprobe

Die Leseprobe zum “Tag der Messer” fällt ein wenig umfangreicher aus und umfasst den Prolog und das 1. Kapitel. Ich möchte sie, je nach Geschmack, in zwei verschiedenen Formaten anbieten: Wer sich nicht durch einen langen Text scrollen will, sondern lieber in überschaubaren Abschnitten liest, der liest am besten hier weiter.
  Wer allerdings nicht gerne klickt, sondern den Text am Stück bevorzugt, der findet unten die komplette Leseprobe und kann hier gleich weiterlesen. Die komplette Leseprobe am Stück lässt sich auch leichter in ein Textverarbeitungsprogramm kopieren und dort so aufbereiten, wie man sie am liebsten haben möchte - oder auch ganz komfortabel auf externen Ebook-Readern lesen. So ist auch an all jene gedacht, denen hier die Schriftart oder die Farbe nicht gefällt, oder die gar nicht gerne am Computermonitor lesen ...
Ich wünsche jedenfalls viel Spaß bei diesem kurzen Ausflug nach Daugazburg, in die Hauptstadt der Finstervölker.

Prolog

Hinrichtungen fanden stets im Abenddämmer statt.
  Das Schafott stand auf dem Drauzwinkel, dem kleinen Platz hinter dem Tor des Blutes. Die hohen Stadtmauern und die verwinkelten Türme von Daugazburg schnürten den Platz ein wie ein zu eng gebundener Gürtel. Der freie Raum konnte die Menge kaum fassen, die sich heute für das Schauspiel versammelt hatte.
  Immer mehr Volk drängte aus den verschatteten Gassen zwischen den Gebäuden heran, es stand auf den Galerien, die sich um Türme und Erker wendelten, und es belagerte die Brücken und Hochstraßen dazwischen. Wer Zugang zu den Wehrgängen hatte, suchte sich dort einen Platz. Goblinkrieger beugten sich über die zur Stadt hin ungesicherte Kante des Außenwalls und spähten hinab. Sie schoben Gnomenkundschafter die Treppen hinunter, wo diese auf den unteren Stufen stehen blieben oder in kleiner Gestalt an den Steinen emporkletterten, um sich einen besseren Platz zu suchen.
  Dennoch blieb es erstaunlich ruhig. Auf dem Schafott stand ein Nachtalb, mit dem olivgrünen rundlichen Gesicht und den feinen Zügen seines Volkes. Er verlas mit monotoner Stimme die Anklage in ein bleiernes Schweigen hinein. Nur die Goblins auf den Wällen blieben von der Stimmung unberührt. Ab und zu johlten sie oder warfen Abfälle unter die versammelten Massen. Zwei von ihnen flogen selbst hinterher, als die Unteroffiziere für Ordnung sorgten. Blutend und zerschlagen blieben sie auf dem Pflaster liegen, und einer zerschmetterte beim Aufprall noch einen Menschen, der hinten in der Menge gestanden hatte.
  Sie waren eben Goblins. Niemand erwartete etwas anderes von ihnen, und niemand scherte sich um ihren Tod oder um den Tod eines menschlichen Sklaven. Ungerührt blieben alle Augen auf das Schafott gerichtet. Allenfalls die Zuschauer auf den schlechten Plätzen unmittelbar unter der Außenmauer schauten immer wieder misstrauisch nach oben.
  Neben dem Herold, der die Anklage vortrug, stand ein Gnom in Ketten: Wito, der Held des letzten Krieges. Bewahrer von Leuchmadans Kästchen. Der Hüter des Lebens in Daugazburg. Zwölf Jahre zuvor hatte er die Verwüstung der Grauen Lande verhindert. Geliuna, die Gebieterin von Daugazburg und eine der letzten Feien, hatte ihn deshalb zum Geheimen Rat erhoben. Jetzt war er tief gestürzt und in Ungnade gefallen.
  Den Blick starr auf das Pergament gerichtet, las der Herold von Verrat und Verschwörung gegen die Herrin der Nacht, von Umsturz und Ketzerei wider Leuchmadans Geist. Hinter ihm stand ein spilleriger Kobold, der dem Alb gerade bis zu den Knien reichte und damit noch kleiner war als der verurteilte Gnom. Er unterstrich die Worte, indem er an den richtigen Stellen eine blecherne Rassel schlug. Fast an den richtigen Stellen. Wann immer er zu früh schlug und die letzten Worte des Herolds übertönte, oder zu spät, wenn der Herold schon wieder fortfahren wollte, bedachte der den Kobold mit einem bösen Blick.
  Die Menge nahm die Anschuldigungen gegen den Verurteilten schweigend auf.
  Fünf Reihen schwer bewaffneter Goblins, krummbeinig, langarmig, bildeten einen schützenden Ring um die Richtstätte. Ihre Gesichter zeigten eine Mischung aus menschlichen und äffischen Zügen. Ihre tief liegenden Augen blitzten tückisch über der flachen Nase, und sie fletschten die Raubtierzähne.
  Die Menge drängte gegen sie. Das Schafott ragte auf wie eine Insel im feindseligen Meer. Auch wenn die Zuschauer ruhig blieben, lag etwas Bedrohliches in dieser Stille. Die Goblins rückten dichter zusammen und hoben die Schilde.
  Die untergehende Sonne zeichnete einen dunkelroten Streifen an den westlichen Himmel. Die Türme der Stadt, wo sie über die Wälle hinausragten, glühten wie in Blut getaucht. Die Gesichter tief unten lagen im Schatten. Etwas regte sich in der Menge.
  Die Goblins fassten die Speere fester. Einer schlug nach einem Schaulustigen in der vordersten Reihe und zog ihm einen blutigen Striemen über die Wange. Die Umstehenden zischten unwillig. Einige Zuschauer wichen zurück, andere drängten umso fester gegen den Schildwall. Die Reihen der Goblins wurden mit einem Ächzen zusammengepresst.
  Weiter hinten in der Menge bildete sich eine Gasse. Eine hochgewachsene Gestalt trat zwischen die Zuschauer, und alle machten eilig Platz. Der Scharfrichter war gekommen. Langsam schritt er auf das Schafott zu und hinterließ einen schmalen, freien Pfad hinter sich, eine schnurgerade Wunde, wie mit dem Messer über den Platz gezogen.
  Die Schwarze Fei hatte viele Henker, doch nur einer war der Scharfrichter. Er brauchte keinen anderen Namen. Der Scharfrichter war doppelt so groß wie ein Goblin, aber spindeldürr. Seine überlangen Arme lagen seitlich an seinem Körper unter der formlosen Kutte, von Ärmeln oder Ärmelfalten umspielt; die Finger waren knochige Klauen.
  Die Nase des Scharfrichters wirkte wie plattgedrückt; der Mund darunter war zugenäht. Die blassen runden Augen glichen denen eines Fisches, fest gegen das dicke Glas eines Aquariums gepresst. Seine Haut war graugrün und kahl. Mancher hielt den Scharfrichter für einen Untoten, andere sahen einen Dämon in ihm oder eine von Leuchmadan geschaffene Kreatur. Er verrichtete seinen Dienst schon so lange, wie der älteste Nachtalb zurückdenken konnte, und er vollstreckte die Urteile der Herren von Daugazburg – gleichgültig, wer gerade auf dem Thron sitzen mochte.
  Er kam bei dem Schafott an. Der Wall aus Schilden teilte sich. Gemessenen Schrittes stieg der Scharfrichter die Stufen empor.
  Wito der Gnom blickte auf. Er war abgemagert. Sein Leib sah aus, als könne er den übergroßen Gnomenkopf kaum tragen. Schmerz und Entbehrung zeichneten sein Gesicht. Der Kopf war an vielen Stellen kahl, die dunkle Haut wund. Ein Arm war unnatürlich krumm, wie gebrochen und falsch eingerichtet. Wito trug Ketten an Händen und Füßen.
  Er schaute vom Scharfrichter zur Menge. Seine Augen waren trüb. Er versuchte, den Rücken zu straffen, zuckte zusammen und erschlaffte wieder. Wito senkte den Kopf.
  Der Scharfrichter baute sich vor ihm auf, eine verkrümmte Gestalt wie eine unheimliche alte Weide. Seltsame Wölbungen beulten die Kutte aus, als wäre das Kleidungsstück ein Sack voll unförmiger Klumpen. Unter dem Saum schauten bloße Füße mit überlangen Zehen hervor, die in ebenso schwarzen Klauen ausliefen wie die Hände.
  Der Scharfrichter starrte auf den Gnom. Ein Schatten zog über seine Augen wie ein unsichtbares Lid. Die vernähten Lippen zuckten, die Klauenhände regten sich verhalten.
  »Und für seine Verbrechen soll Wito, der Gnom, verbannt werden in das Labyrinth des Schreckens«, beschloss der Nachtalben-Herold seine Rede. »Im Namen Geliunas, der Schwarzen Fei, der Herrin von Daugazburg und der Grauen Lande, Statthalterin von Leuchmadan bis zu Seiner Rückkehr.« Er wandte sich dem Scharfrichter zu. »Ihr möget das Urteil nun vollstrecken.«
  Mutwillig schlug der Kobold die Rassel, so dass ihr Klang die letzten Worte des Herolds fast verschluckte. Das Rot am Himmel über den Mauern gerann zu einem dumpferen Ton. Die Fledermäuse von Daugazburg verließen ihre Höhlen und kreisten lautlos über dem Platz. Wie lebende Rauchwolken flogen sie ineinander und zerstreuten sich wieder. Manche flatterten ins Umland hinaus, um sich zwischen den Feldern und Hainen ihre Beute zu suchen, andere tauchten zurück in das Gassengewirr und kamen den Aufträgen ihrer Herren nach.
  Der Scharfrichter breitete die langen Arme aus. Er öffnete seine Klauenhände, dann spreizte er die Finger. Die Krallen des Scharfrichters rissen ein Loch in die Wirklichkeit, und die Menge hielt den Atem an.
  Eine Schwärze tat sich auf, die keine Schwärze war – kein Schatten, sondern ein fremdes Licht, so unfassbar, dass es alles Sehen auslöschte. Selbst die nachtsichtigsten unter den Finstervölkern blickten blind in diese Dunkelheit, die allmählich zu einer Fläche auswuchs, zu einer Scheibe ohne Tiefe. Dies war das Tor zum Labyrinth des Schreckens, das allein der Scharfrichter öffnen konnte.
  An diesen Ort verbannten die Herren von Daugazburg ihre Feinde, und die meisten von ihnen fanden dort unter unvorstellbaren Qualen den Tod. Sie wurden in einer unwirklichen Umgebung von Ungeheuern gejagt und von Entbehrungen gequält, bis sie zugrunde gingen. Nur wenige kehrten zurück.
  Wem es gelang, der war an Leib und Seele gebrochen. Trotzige Rebellen und stolze Fürsten kamen als unterwürfige Diener wieder, bloße Schatten ihrer selbst. Sie überlebten nur so lange, wie sie den Herren von Daugazburg als Beweis ihrer Macht dienen konnten.
  Tausende Augenpaare, die im Schatten unter den Türmen glänzten, schlossen sich nun oder wandten sich ab. Die wabernde Scheibe aus Unlicht war mehr zu fühlen als zu sehen, ein steter Sog, der an jedem zerrte. Wer den Blick nicht gleich abwendete, dem schien es die Augäpfel aus den Höhlen zu ziehen.
  Zwei Goblins traten vor. Sie packten Wito den Gnom und warfen ihn zu dem Scharfrichter hin. Sogleich fuhren sie wieder herum und wichen zwei Schritte zurück, als fürchteten sie, mit dem Verbannten verschlungen zu werden.
  Der Scharfrichter hielt die Arme ausgebreitet wie zu einer Umarmung. Der Gnom schlug vor ihm auf den Boden, stolperte in seinen Ketten weiter, kippte nach vorne ... und verschwand. Darauf klatschte der Scharfrichter einmal scharf, und das Unlicht erlosch.
  Die Zuschauer blickten wieder auf. Sie starrten zum Schafott empor. Das Labyrinth des Schreckens. Niemand in der Menge wusste wirklich, was für ein Ort sich hinter dieser Bezeichnung verbarg. Doch jeder kannte seine Bedeutung: Es war wie der Tod, nur mit dem Grauen vorweg, an einem Ort jenseits der Welt und verloren.
  »Das Urteil wurde vollstreckt«, verkündete der Herold. »Wito der Gnom ist verbannt, und sein Schicksal soll allen zur Warnung dienen.«
  Der Scharfrichter verschränkte die Hände und schickte sich an, von dem Podest zu treten. Der Kobold sprang hinter dem Nachtalb umher. Er schlug die Rassel, und der Herold zog die Augenbrauen zusammen und starrte missbilligend in die Menge.
  Da ertönte ein leises Stimmchen, von so weit unten aus der Masse an Köpfen und Gesichtern, als hätten irgendjemandes Füße plötzlich sprechen gelernt. »Pfui!«, rief die Stimme. »Schande! Nach allem, was Wito getan hat! Die Schwarze Fei wäre nicht an der Herrschaft ohne ...«
  Das Weitere ging unter im Gemurmel. Alle sprachen durcheinander, es gab Meinungen und Widerworte, und mancher griff die Rufe auf: »Pfui!« und »Schande!«
  Schreie mischten sich in das Raunen. Bewaffnete Goblins tauchten auf. Eben noch waren sie von Umstehenden verdeckt gewesen, nun verschafften sie sich Platz. Eilig wichen die Schaulustigen zurück, als die Krieger ihre Waffen schwangen. Sie bahnten sich einen Weg zu der Stelle, wo die erste Stimme erklungen war. Auch die Wachen um das Podest setzten sich in Bewegung und trieben die Menge auseinander.

1. Teil
Revolution

Ein Urwald entspross dem Mauerwerk und füllte das ganze Zimmer. Das Pult stand mitten im Dickicht. Blätter umrankten die Bücherregale, Stämme krümmten sich zu Fächern und Luftwurzeln hingen von der Decke tief in den Raum hinab. An einigen davon waren Dinge befestigt, die der Bewohner dieser Räumlichkeiten rasch griffbereit haben wollte – Schriftrollen, Werkzeuge und Präparate.
  Inmitten des zugewucherten Gemachs saß der Nachtalb an seinem Schreibpult. Er grub die Finger in das Pergament und knüllte das Blatt zusammen. Dann stand er unvermittelt auf und ging zum Fenster.
  Hier kam er nicht weiter. Der Verlauf seiner Forschungen erforderte eine Exkursion! Aber jetzt? Raschelnd umschmeichelte das Grün seine Schultern, während er den Raum durchquerte.
  Eine kreisrunde Öffnung im Pflanzenwerk ließ das Fenster frei. Wie ein Auge blickte es hinaus in eine Welt, die unterschiedlicher nicht hätte sein können: In Daugazburg gab es unter freiem Himmel nicht einen Baum oder Strauch. Der Nachtalb legte die Hand auf die Scheibe. Die Facetten, die eben noch das Licht gebündelt und einen blassen Strahl auf sein Pult gelenkt hatten, glätteten sich und wurden klar, bis er schließlich ungehindert hinausschauen konnte.
  Die Sonne sank dem Horizont entgegen. Hier, vom höchsten Stockwerk seines Turms aus, sah er den orangeroten Ball eben noch über den Stadtmauern stehen. Er blinzelte. Die Sonne war den Nachtalben kein Freund. Sie brauchten Licht zum Lesen wie jedes andere Geschöpf, doch die Alben bevorzugten den Mond dafür – oder ein Fenster aus amorphem Glas, das das Sonnenlicht filterte und angenehm dämpfte.
  Die Stadt wirkte ruhig. Bald würden Lampen und Fackeln entzündet werden, wenn das reiche Nachtleben von Daugazburg seinen Anfang nahm. Der Nachtalb hier oben war diesem Treiben entrückt. Kein Laut drang in sein Studierzimmer. Er starrte in die Gassen hinab und nahm in der Ferne Bewegung wahr.
  Der Nachtalb kniff kurz die Augen zusammen, dann nickte er. Er hatte davon gehört: Ein Gnom sollte dort gerichtet werden. Diese Neuigkeit war in den letzten Tagen ein Stadtgespräch gewesen. Vor wenigen Jahrhunderten hätte niemand ein solches Ereignis der Erwähnung wert befunden. Wen kümmerte das Schicksal eines Gnoms?
  Ja, noch vor einem Jahrhundert hätte Geliuna sich nicht die Mühe gemacht, eine so mindere Kreatur in das Labyrinth des Schreckens zu verbannen.
  Es war ein Zeichen dafür, wie schwach die Herrin war. Leuchmadans Rückkehr hatte ihre Herrschaft erschüttert, und sein neuerlicher Sturz das ganze Reich. Aber dennoch – so viel Aufhebens um einen Gnom!
  Unmöglich konnte er unter diesen Umständen reisen. Umstürze standen bevor. Der Nachtalb hielt sich vom Treiben bei Hofe fern, doch es gab Neider. Und er hatte einiges zu verlieren. Niemand wusste, was die nächsten Monde brachten ...
  Er ging an sein Schreibpult zurück und entfaltete das alte Pergament wieder, suchte in den Zeilen nach neuen Erkenntnissen. Dann holte er einen Stoß feiner Blätter aus einem Seitenfach und machte sich Notizen.
  Als die Sonne endgültig vom Firmament verschwand, entzündete er den talggefüllten Menschenschädel, der ihm als Leuchter für die Stunden des Übergangs diente. Dann tastete er nach dem silbergefassten Glasröhrchen um seinen Hals. Ihm blieb noch ein wenig, was er hier in der Stadt, in seinem Turm erledigen konnte. Doch wenn die Zeiten ruhiger wurden, musste er aufbrechen und seine Theorien vor Ort überprüfen. Schon seit Jahrzehnten schob er diese Reise von sich her. Und in seinem Herzen wusste er auch den Grund dafür: Ob er nun Recht behielt oder nicht – nach dieser Exkursion wäre sein Leben nicht mehr wie vorher.
  Und der alte Nachtalb schätzte Veränderungen nicht.

1. Kapitel: Von neuen Ideen und altem Gebein

Etwas ändert sich in Daugazburg. Treffpunkte entstehen in der Stadt, neue Orte und neue Formen der Geselligkeit. Die Leute reden über Politik. Völker machen sich Gedanken über die Rolle, die sie in den Grauen Landen spielen. Und es bilden sich Zusammenschlüsse jenseits von Sippe und Volk.
  Das liegt nicht nur an den Wirren nach Leuchmadans Verschwinden, nicht an dem unvermittelt beendeten Krieg, dem Abzug der Verbündeten.
  Neue Ideen liegen in der Luft. Es ist ein Aufbruch in eine neue Zeit. Die Entwicklung ist unumkehrbar. Was auch immer in den nächsten Jahren geschehen wird: Daugazburg wird nicht mehr dieselbe Stadt sein wie zuvor. Eine Rückkehr der tausendjährigen Herrschaft der Fei wird es nicht geben, und selbst die Herrin wird sich bewegen müssen und dem Wandel folgen.

Bleidan, der Nachtalb,
Rede in der politischen Vereinigung der »Freunde des Fortschritts«

Im Silbermond 40 nLR – Spätsommer in Daugazburg

Frafa, die Nachtalbe, trug ein Taschentier auf der Schulter und einen Korb am Arm und versuchte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Unwillig warf sie den Kopf zurück, so dass ihr schwarzes halblanges Haar nach hinten flog. Die Echse schrak auf und kletterte an ihr herum. Frafa hasste Menschen, diese groben und stinkenden Sklaven, und hier gab es so viele davon!
  Frafa war früh aufgebrochen, um als Erste auf dem Zollmarkt vor der Stadt zu sein. Jetzt steckte sie in der Menge fest, ehe sie auch nur den Drauzwinkel erreicht hatte.
  Auf dem Platz stand eine Hinrichtung bevor. Sie hatte davon gehört. Es ging um kleines Volk, um Gnome. Frafa hätte im Traum nicht damit gerechnet, dass sich das neugierige Pack deswegen bis in die Gassen hineindrängte. Sie blickte nach oben. Die Brücken und Galerien waren ebenso überfüllt. Ob sie umkehren sollte, um die Stadt durch ein anderes Tor zu verlassen? Das würde länger dauern als die ganze Hinrichtung.
  Frafa drängte weiter vorwärts. Einem Menschen, der nicht beiseiterücken wollte, stieß sie den spitzen Ellbogen ins Auge. Das Taschentier an ihrem Ohr zischte, und Frafa zuckte zusammen. Die Menge schloss sich dichter um sie. Der Korb wurde ihr so fest an den Leib gepresst, dass der Bast krachte. Frafa spürte, wie Balgir das Taschentier den Schwanz um sie ringelte und sich fester anklammerte.
  Die meisten der Menschen um sie her trugen eiserne Halsringe. Es waren Sklaven, zu gering von Rang, um sich einen besseren Platz vorne im Drauzwinkel zu erkämpfen. Sie reckten sich und stellten sich auf die Zehenspitzen, sie blinzelten in die zunehmende Dunkelheit zwischen den hohen Türmen von Daugazburg und hatten doch keine Aussicht, irgendetwas von dem Ereignis mitzubekommen, um dessentwillen sie hergekommen waren.
  Sie sind nur hier, um mir im Weg zu stehen, dachte Frafa.
  Flinke Kobolde huschten zwischen den Beinen der Menschen hindurch, und Frafa trat nach ihnen.
  Sie hielt den Korb so vor den Bauch, dass der Griff wie zufällig Balgirs Schwanz einklemmte. Das tat sie so lange, bis das Taschentier auf ihrer Schulter lauter zischte und die Krallenfüße durch den Stoff in ihre Haut bohrte. Dann machte sie sich Sorgen um ihre Ohren und achtete darauf, das Tier nicht länger zu reizen. Sie wusste genau, Balgir hasste sie, und das zahlte Frafa ihrem Vertrauten nach Kräften heim.
  Die Dunkelheit um sie her wurde dichter. Schatten krochen höher und höher an den Türmen empor und verschlangen das rote Abendlicht. Die lächerlich hellen Menschenaugen glänzten in der Dämmerung. Frafa roch Angst und Wut in der Menge. Es wurde schlimmer, je näher sie dem Drauzwinkel kam, aber entschlossen schob sie sich voran.
  Hinrichtungen fanden bei Sonnenuntergang statt. Danach würde die Menge sich rasch zerstreuen. Bis es so weit war, wollte Frafa den Platz erreicht haben, damit sie nicht in den schmalen Straßen von der davonflutenden Menge mitgerissen wurde.
  Plötzlich schlossen sich grobe Finger um ihren Arm. »Eine kleine Nachtalbe, so ganz allein hier unten«, murmelte eine Stimme dicht neben ihr.
 

»Schande!«, brüllte Darnamur, der Gnom. Er war nur halb so groß wie ein Goblin und konnte kaum sehen, was auf dem Schafott geschah. Doch was er mitbekam, reichte aus: Sie hatten Wito in die Verbannung geschickt, seinen Freund und Hauptmann. Wie konnten sie es wagen?
  Rings um ihn nahmen andere Zuschauer den Ruf auf. Die meisten davon waren Gnome wie er. Manche von ihnen kannte Darnamur. Es waren Anhänger von Witos politischer Vereinigung, den »Grünen Landen«. Aber auch Menschen und Kobolde taten ihren Unwillen kund. Viele auf dem Platz waren mit dem Urteil nicht einverstanden.
Aber als die Goblins kamen, rückten sie alle von Darnamur ab, und er stand unvermittelt allein da.
  Feiglinge!
  Darnamur zog ein Messer. Seine Hand bebte vor Wut. Er stierte den Goblins entgegen.
  Die Krieger vor dem Schafott rückten als geschlossener Wall aus Schilden vor. Sie bohrten sich in die weiche Flanke der Massen und drängten die Leute zurück. Die Truppen von Geliuna, der Schwarzen Fei, räumten den Drauzwinkel. Kleinere Trupps der Stadtgarde, die unter den Zuschauern standen, setzten sich ebenfalls in Bewegung. Wo die Unzufriedenen sich sammelten, trieben die Goblins sie auseinander. Gleich mehrere dieser Trupps hielten auf Darnamur zu.
Darnamur bewegte sich mit den Umstehenden. Die wichen den Kriegern aus, aber dem kleinen Gnom boten sie dennoch eine gute Deckung. Sie tarnten seine Bewegungen und hielten die Gegner auf. Darnamur nutzte das Gewimmel und schlich von der Seite an die Goblins heran, die ihn fassen wollten.
  Da bekam er von hinten einen Tritt. Er wurde nach vorn geschleudert und schlug der Länge nach hin. Bevor Darnamur sich aufrappeln konnte, stellte der Angreifer ihm einen Fuß auf den Rücken. Eiserne Stiefelbeschläge gruben sich in die Lederweste. Darnamur wand sich, aber der Stiefel presste ihn auf den Boden, so dass er kaum noch Luft bekam.
  Hilflos wandte er den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er glänzende Schienen an kurzen krummen Beinen. Ein goldener Brustpanzer blitzte darüber. Darnamur stach ungeschickt mit dem Messer nach dem Bein, aber der Goblin, der ihn überwältigt hatte, stieß ihm das stumpfe Ende des Speerschafts gegen den Kopf. Es war nur ein leichter Stoß, aber Darnamurs Gesicht schlug gegen das Pflaster, das Messer fiel ihm aus der Hand und er spürte den metallischen Geschmack von Blut im Mund.
  »Gibst du wohl Ruhe, du kleine Wanze«, knurrte der goldene Goblin.
  Die anderen Wachen kamen heran und blickten auf Darnamur hinab. Der schaute mit tränenden Augen zu ihnen auf.
  »Ah, hast sie erwischt, die ranzige Ratte«, sagte einer der Krieger zu dem Goldgerüsteten. »Gib uns den Gnom. Diese halben Zwerge sollte man gleich im Dutzend hinrichten, sonst wird man nicht satt davon!« Der Krieger lachte.
  Da fuhr ihm eine Speerspitze ins Auge und wurde wieder zurückgerissen, verschmiert mit Schleim und dunklem Blut.
 

Frafa riss sich erschrocken los und fuhr herum.
  Ein besonders hässlicher Mensch, grob und unförmig und mit Pockennarben im Gesicht, drängte ihr nach. Er trug schäbige Kleidung, roch nach Krankheit und Alkohol – und er trug keinen Ring um den Hals. Ein herrenloser, streunender Mensch!
  Frafas Herz pochte wild. »Was erlaubst du dir«, fuhr sie den Kerl an. Hoffentlich zitterte ihre Stimme nicht. Das Blut rauschte ihr so laut in den Ohren, dass sie sich selbst kaum hören konnte.
  Der Mann fasste mit seinen prankenartigen Händen wieder nach ihr, und Frafa wich weiter zurück. »Ich werde deine Finger verdorren lassen!«, drohte sie.
  Der Mensch grinste hämisch. »Das glaube ich kaum, mein hübsches Nachtalbenkind«, murmelte er. »Du bist nur ein Küken, und weit weg von deinesgleichen.«
  Frafa zwängte sich zwischen den Schaulustigen hindurch. Sie wollte im Schatten untertauchen. Menschen waren nicht geschaffen für die Nacht.
  Doch sie kam kaum voran. Überall standen Menschen, und sie machten ihr nicht Platz. Sie murrten unwillig, wenn Frafa gegen sie stieß. Der Mann hinter ihr bahnte sich rücksichtslos einen Weg. Er drängte Frafa auf eine Seitengasse zu und holte sie an der Einmündung ein.
  Dort presste er Frafa gegen eine Mauer, den Sockel eines mächtigen Turmes. Frafa keuchte. Sie starrte zu dem Mann hoch. Sein Atem schnürte ihr die Luft ab.
  Der Mann wühlte ungerührt in dem Korb herum, den Frafa schützend vor sich hielt. Sie hielt ihn schräg, damit der Mensch nicht mehr hineinsehen konnte. Der presste sie daraufhin noch heftiger gegen den Mauersockel. Frafa gab ein ersticktes Würgen von sich, und alle Kraft wich aus ihren Armen. Der Angreifer riss den Korb an sich. Als er sich vorbeugte, biss Balgir ihm in die Nase.
  Der Mensch schrie auf und fuhr zurück, aber das Taschentier ließ nicht los. Der Mann taumelte und ruderte wild mit den Armen. Die Umstehenden wichen zur Seite. Das Taschentier hatte sich so fest verbissen, dass er es hinter sich her von Frafas Schulter zerrte.
  Frafa blieb benommen stehen. Sie rang nach Atem und starrte dem Angreifer nach. Der warf den Kopf hin und her und schrie. Balgir schlenkerte vor seinem Gesicht wie ein bizarrer Rüssel, Blut tropfte dem Mann vom Kinn.
  Er schloss seine kräftigen Fäuste um die grüngraue Echse und zerrte an ihr. Das Blut strömte ihm dabei über das Gesicht, und er gab gurgelnde Laute von sich. Balgir legte ihm die Vorderpfoten auf die Schläfe und klammerte sich damit zusätzlich fest. Der Mensch quetschte die Echse heftiger, und Balgir schlug ihm die Krallen in die Augen.
  Der Mann schrie gellend.
  Um sich schlagend bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Er riss an der Echse und schlug auf sie ein. Meistens traf er sich selbst. Die Umstehenden murrten und stießen den Mann fort. Frafa raffte sich auf, nutzte eine Lücke und floh. Nach wenigen Schritten blieb der Lärm des Kampfes hinter ihr zurück, und zitternd setzte sie ihren Weg zum Tor des Blutes fort.
  Sie hatte Balgir verloren, aber dafür die Börse im Korb gerettet. Mit dem Silber konnte sie ohnehin mehr anfangen als mit dem Taschentier, das ihr heute zum ersten Mal nützlich gewesen war. Frafa atmete tief durch.
  Im Grunde ist meine Tante an allem schuld, befand sie: Daugrula hätte Frafa in die Lehre nehmen und bei Hofe einführen sollen. Stattdessen hatte sie die Nichte schnellstmöglich zum greisen Aldungan abgeschoben, damit sie selbst in die Welt hinausspazieren und sich umbringen lassen konnte. Und dieser Lehrherr kümmerte sich um Frafa nur, wenn er sie für Botengänge brauchte. Aldungan hatte ihr nicht einmal beigebracht, wie sie sich gegen einfache Menschen zur Wehr setzen konnte!
  Die Unruhe vor ihr nahm zu. Frafa hielt kurz inne und legte den Kopf schräg. Sie hörte Johlen und Brüllen – feierte die Menge etwa die Hinrichtung?
  Frafa eilte weiter. Nach wenigen Schritten öffnete sich der Platz vor ihr. Hier mischte sich anderes Volk unter die Menschen: Gnome und Kobolde, Goblins, Vampire und Nachtmahre ... Und auch Nachtalben.
  Sie atmete auf und wollte sich dem zivilisierteren Volk zugesellen. Bis sie erkannte, dass all diese Wesen in ihre Richtung liefen. Eine Masse von Leibern hielt genau auf sie zu und drohte sie zu überrennen.
 

Der Goblin riss brüllend die Hände an das verletzte Auge und taumelte zurück. Seine Kameraden packten ihre Waffen fester.
  Der Goblin mit der goldenen Rüstung stemmte den Speer vor sich auf den Boden. »Wenn du deine Glotzer nicht brauchen kannst, ich weiß was damit anzufangen.« Er leckte Blut und Augenflüssigkeit von der Speerspitze. »Ihr Wildsaugesichter! Wisst wohl nicht, wen ihr vor euch habt?« Der Goblin schlug sich mit der Linken vor den funkelnden Brustpanzer. »Ich bin Hauptmann von Geliunas Palastgarde. Ihr seid nur behaarte Würmer, die durch die Gossen von Daugazburg kriechen! Ihr nehmt mir meinen Gefangenen nicht weg!«
  Die anderen Goblins verharrten unschlüssig und knurrten. Hasserfüllt starrten sie den Artgenossen an, der über Darnamur aufragte, aber sie zogen den Kopf ein. Der Goblin mit dem ausgestochenen Auge wimmerte.
  »’tschuldige, Hauptmann ...«, stieß einer der Krieger widerwillig hervor. »Wir sorgen für Ordnung auf’m Platz. Wollten ’n stinkenden Gnom festnehmen, der Aufruhr verbreitet.«
  Der Goblinhauptmann hob den Fuß hoch, mit dem er den Gnom zu Boden gedrückt hatte. Darnamur holte tief Luft. Dann fühlte er sich von einer Klauenhand am Rücken gepackt und wurde hochgehoben wie ein Päckchen.
  »Ich kümmer mich um den Aufrührer«, sagte der goldene Goblin. »Ihr kriecht wieder in die stinkenden Löcher, wo ihr rausgekommen seid.«
  Er drängte sich zwischen den anderen Goblins hindurch. Dabei schlug er mit dem Speerschaft nach ihnen, und sie wagten nicht, sich dem Hauptmann von Geliunas Palastgarde zu widersetzen. Winselnd liefen sie auseinander und zogen ihren verletzten Kameraden mit sich.
  »Manchen Saunasen muss man den Gehorsam einprügeln«, knurrte der Goblin. Darnamur sträubte sich gegen dessen Griff und zappelte. Der Goblin schüttelte ihn, dass die Zähne aufeinanderschlugen. Schlaff blieb Darnamur im Griff des Hauptmanns hängen, während der durch die panisch vom Platz fliehende Menge auf die Stadt zuschritt. Er tauchte in den Schatten der turmhohen Häuser, bahnte sich seinen Weg zwischen fliehenden Menschen und Gnomen hindurch und bog in eine Seitengasse ein.
  Darnamur tastete nach seinem zweiten Messer, dem Knochenmesser im Stiefel.
  Der goldene Goblin warf ihn auf den Boden, packte ihn an seinem Wams und riss ihn wieder hoch. Die Nähte an Darnamurs Weste drohten zu reißen, die Klauenfinger des Goblins krallten sich in das Leder.
  Dann rammte der Goblin den Gnom so kräftig gegen eine Hauswand, dass Darnamur erneut die Luft wegblieb. Er sah seinen Gegner, der ihn am ausgestreckten Arm festhielt, nur noch verschwommen: einen vergoldeten Brustpanzer mit in Silberintarsien eingelassenen Fledermausschwingen, darüber einen gleichfalls vergoldeten Helm mit rotem Helmbusch und ein dunkles, pelziges, flachnasiges Gesicht dazwischen.
  »Darnamur, du dämliche Rattenfresse!«, brüllte der Goblin ihn an. »Willst du endlich klug werden, oder muss ich dir den Kopf erst zurechtrücken?«
  »Dich bring ich als Erstes um, Werzaz«, zischte Darnamur. »Lass mich los, wenn du ein Krieger bist und kein geschleckter Feienknecht!«
  Werzaz schüttelte den Gnom noch heftiger, als der Kobold zuvor auf dem Schafott seine Rassel geschwungen hatte. Dann ließ er ihn auf das Straßenpflaster fallen. Darnamur blieb reglos liegen. Werzaz trat schwer atmend einen Schritt zurück und lehnte sich gegen die Wand. Eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort.
  »Hör zu, Flohhauptmann«, keuchte Werzaz schließlich. »'s gefällt mir auch nicht, was die Fei mit dem kleinen Wito gemacht hat. Aber er hat's selbst rausgefordert!«
  Darnamur sagte nichts. Er lag einfach nur da wie tot. Werzaz trat wieder zu ihm hin und stieß ihm ganz leicht die Spitze des eisenbeschlagenen Stiefels in die Seite.
  »Hörst du mich, Sterzkopf?«, fragte er. »Als Hofrat der Fei hätt’ Wito in Samt und Seide leben können, den Rest seiner Tage. Aber er konnt ja sein Maul nicht halten, der überschlaue Gnom. Und jetzt isser weg, und du machst da gar nichts dran. Kannst dich höchstens auch noch schlachten lassen, wenn du zu laut rumschreist.«
  Darnamur hob den Kopf. »Es ist gut, Werzaz«, sagte er. »Du hast recht.«
  »'türlich hab ich recht, Käferhirn«, knurrte Werzaz.
  Darnamur stand schwankend auf und strich sich die Weste glatt. »Du hättest mich trotzdem nicht so grob anfassen müssen«, murmelte er.
  »Sondern?«, fragte Werzaz. »Soll ich dich streicheln und herzen und warten, bis die Kameraden von der Stadtgarde dir den Saft ablassen? Ich hätt nicht geglaubt, dass du so blöde bist!«
  Darnamur nickte. Er fasste an den Gürtel, sah sich um, aber das Messer war auf dem Platz geblieben. »Es ist ... über mich gekommen«, sagte er. »Ich dachte ... Jedenfalls hätte die Fei Wito nicht verurteilen dürfen. Es war ungerecht. Hätte er ihr das Kästchen nicht gebracht, säße sie gar nicht auf dem Thron. Und hätten alle auf dem Platz gegen dieses Unrecht zusammengestanden, dann hätten diese Goblins mir gar nichts tun können. Verdammt, hättest nur du mir geholfen, wären wir mit diesen Goblins schon fertig geworden!«
  Werzaz fasste Darnamur an der Schulter und zog ihn mit sich. »Bist wohl die Fei von Hätten-Land, was?«, sagte er. »Aber recht hast du. Heute braucht es mehr Blut, um das Blut zu kühlen! Ich kenn eine Schenke, da kehrt die Goblinwache ein. Gehn wir dahin und machen einen drauf. Für Wito, damit wir drüber wegkommen! Ich lad dich ein.«
  Darnamur schüttelte seine Hand ab. »Ich will nicht darüber wegkommen!«
  »Wir haben Spaß, ganz wie du es wolltest«, meinte Werzaz lockend. »Nur woanders, wo's nicht gleich als Aufruhr gilt. Wir gehn in die Kneipe, trinken was. Dann schlag ich ein paar von den Fratzen die Zähne ein, und du Trollkötel springst zwischen ihren Beinen herum und schlitzt ein paar Bäuche auf, wenn sie abgelenkt sind. Hei, das wird eine richtige Goblinfeier!«
  Er knuffte seinen Begleiter, der drei Schritte zurücktaumelte.
  »Danke«, sagte Darnamur. »Ich denke, ich besuche lieber meine eigene Schenke.« Er machte kehrt und entfernte sich.
  »Aber keinen Unsinn mehr, Kleiner!«, rief Werzaz ihm nach.
  Darnamur hob die Hand, ohne sich umzuschauen, und zeigte seinem alten Kampfgefährten zwei Finger.
 

Frafa blickte sich gehetzt um. Sie stand am Rand des Platzes, am Sockel eines Turms, und die Menge drohte sie zu zerquetschen. In der Einmündung, aus der sie eben gekommen war, drängten sich immer mehr Leute. Goblinkrieger trieben die Zuschauer erbarmungslos vom Platz und kümmerten sich nicht darum, wen sie mit ihren Speeren trafen.
  Frafa wich zurück, bis sie die kühle Mauer in ihrem Rücken fühlte. Den Korb hielt sie schützend vor sich. Dann spürte sie, wie wieder jemand nach ihrem Arm fasste.
  Hatte dieser furchtbare Mensch das Taschentier abgeschüttelt und war ihr nachgekommen?
  Aber der Griff war leicht, die Finger schmal. Als Frafa den Kopf wandte, blickte sie Bleidan ins Gesicht, dem Meisterschüler ihres Herrn. Wieder schlug ihr Herz schneller, doch diesmal aus ganz anderen Gründen.
  Bleidan war ungewöhnlich groß für einen Nachtalb, und sein rundliches Gesicht war so hell, dass die pechschwarzen Augen darin umso dunkler wirkten. Ein Hauch von Goldschimmer lag über seinem schwarzen Haar, das ihm offen und lang über die Schultern fiel. Frafa war überzeugt davon, dass dieser Glanz sichtbarer Ausdruck seiner magischen Aura war. Er trug ein langes, an den Seiten geschlitztes dunkelblaues Gewand mit brokatenen Flammen an der Schulter.
  Frafa schaute zu ihm auf, den Mund halb offen mit leicht vorgeschobener Oberlippe, und sie schämte sich dafür. Verlegen strich sie mit der Linken ihr Kleid glatt.
  Bleidan zeigte seine makellosen, spitz zulaufenden kleinen Zähne. Sie funkelten wie Perlen, die auf winzigen Kissen aus blutrotem Samt zur Schau gestellt wurden.
  Frafa senkte den Blick. »Meister Bleidan«, murmelte sie.
  »Es wird ein wenig unruhig hier«, sagte Bleidan. »Am besten kommst du mit mir.«
  Er zog sie hinter sich her, und Frafa folgte ihm wie in Trance. Hinter ihrer Stirn kreisten die Gedanken. Sie wollte etwas Kluges sagen, etwas Aufsehenerregendes tun. Aber sie konnte Aldungans Meisterschüler nur hinterherstolpern. Sie war Bleidan noch nie so nah gewesen. In Aldungans Turm hatte sie ihn bloß aus der Ferne gesehen. Nie hatte sie einen Grund gefunden, als niederer Lehrling ein so hochstehendes Mitglied des Haushalts anzusprechen.
  Was hatte Bleidan unter all den Schaulustigen auf dem Platz gewollt? Gewiss erforschte er die Magie des Scharfrichters. Was für eine Macht wäre es, wenn man dieses Geheimnis entschlüsselte und selbst ein Tor zu dem Ort öffnen konnte, an den die Fei ihre Feinde verbannte.
  Der Alb vor ihr ging gelassen auf den Schildwall der Goblins zu. Auf seine herrische Geste hin öffneten sie einen Durchgang für ihn und seine Begleiterin, und die beiden gingen an den stinkenden Goblins vorbei, die fluchend weitermarschierten. Leder knarrte und Stahl klirrte. Dann standen die beiden Nachtalben auf dem fast leeren Drauzwinkel. Ein Stück vor ihnen erhob sich das Schafott, dazwischen lagen einzelne Zuschauer, die gestürzt und von den Goblins zurückgelassen worden waren. Manche schreiend, andere still in ihrem Blut.
  Bleidan löste die Finger von Frafas Oberarm und fasste sie an der Hand. Er führte sie von diesem Ort weg und wieder auf die Stadt zu.
  »Ich muss ...« Frafa räusperte sich. Sie musste draußen auf dem Zollmarkt Pflanzensamen kaufen. Aber warum sollte sie das jetzt erwähnen?
  »Ich bin überrascht, dich hier zu treffen«, sagte Bleidan. »Ich wusste nicht, dass du dich für diese Dinge interessierst.« Mit einer vagen Geste wies er über den Platz.
  Frafa nickte eifrig. »Ich interessiere mich für alles«, sagte sie. »Ich will lernen.«
 

Darnamur drang tiefer in das Abendviertel ein. Er folgte den Straßen der Unterstadt, die auf dem Boden verliefen. Oben zwischen den Türmen spannte sich ein eigenes Netz von Brücken und Hochstraßen, ein Irrgarten, wenn man sich dort nicht auskannte. Viele dieser Wege führten durch Privathäuser, an Toren und Wachen vorbei, die nicht jeden passieren ließen.
  Hier unten, am Fundament der Stadt, bewegte sich das Volk. Daugazburg war hier ein ganz anderer Ort.
  Wie kleine Festungen ragten Türme aus rotem Stein in den Nachthimmel. So getrennt voneinander sie in der Höhe auch wirkten, am Grund waren ihre Wurzeln zusammengewachsen. Fundamente und Grundmauern vereinigten sich zu großen Gebäudeanlagen, niedrige und halbhohe Häuser lehnten sich an diese Wände und bildeten ein Gewirr von schmalen Gassen, durch das nur wenige breite Hauptstraßen schnitten.
  Darnamur bog mehrmals ab, und die Unruhe des Drauzwinkels blieb hinter ihm zurück. Er sah sich um, aber niemand folgte ihm.
  Die meisten Passanten hier waren Menschen: Sklaven und ehemalige Sklaven, entlaufene Sklaven und die Nachkommen von Sklaven. Es gab auch viele Menschen, die niemals Sklaven gewesen waren. Sie entstammten den Völkern, die sich Leuchmadan freiwillig unterworfen hatten, die ihn als Gott verehrten. Sie hatten Daugazburg als Verbündete betreten und waren geblieben. Und nach dem letzten Krieg vor zwölf Jahren waren es noch mehr geworden.
  Hier unten, in der Finsternis zwischen den Fundamenten, hätte man Daugazburg fast für eine Menschenstadt halten können. Nachtalben verirrten sich selten hierher, kleines Volk fiel nicht auf. Tagsüber hatten die Menschen die Straßen fast ganz für sich. Dann gingen selbst die Goblins selten nach draußen, Vampire und Nachtmahre niemals.
  Jetzt, in der Nacht, brannte fast an jeder Ecke, vor jedem Eingang ein kleines Licht. Von den höchsten Türmen aus mussten die Tiefen der Stadt wie ein Spiegelbild des Sternenhimmels hoch oben wirken, und diese Sterne leuchteten für diejenigen unter den Einwohnern, denen die Nacht nicht die natürliche Heimat war.
  Eine große rote Laterne in der Form eines Drachen schimmerte vor einem Bau, der krumm und schief an einen Turm gelehnt dastand – der Rote Drache. Darnamur liebte diesen Ort. Er drückte die Türe auf und trat ein.
  Feuchtigkeit schlug ihm entgegen, durchwirkt von Qualm und dem Geruch nach Schweiß. Etwa drei Dutzend Menschen befanden sich im Schankraum, saßen auf wackeligen Stühlen und schiefen Bänken. Sie schlugen mit den Humpen auf die schweren Tische aus groben Bohlen und jagten den Wirt herum.
  Dieser, ein hagerer Mann mit ungewöhnlich breiten Schultern und mit einem schütteren Bart, der an den spärlichen Haarwuchs eines Gnoms erinnerte, wurde sogleich auf Darnamur aufmerksam. »He«, rief er. »Wir bedienen keine Gnome hier. Immer noch nicht.« Er wies zu einem kleineren Ausgang, der neben dem Tresen auf einen kurzen Flur führte.
  Darnamur winkte ihm zu. »Ich weiß, ich weiß, Beuzabar«, sagte er und ging weiter.
  In dem Flur führte eine Treppe nach oben. Darnamur stieg fünf Stufen hinauf, dann nahm er seine kleine Gestalt an. Im Nu schrumpfte er auf die Größe eines Käfers zusammen.
  Seitlich neben der Treppe gab es einen Riss in der Wand, so winzig, dass man ihn in normaler Größe nicht sehen konnte. Und in diesen Riss war eine ebenso winzige Pforte eingelassen.
  Darnamur klopfte an, und ein weiterer käfergroßer Gnom öffnete ihm. An ihm vorbei trat Darnamur in einen weiteren Raum, in eine geheime Gnomenstube.
  Die Kammer war winzig, ein Insektenloch nach den Maßstäben der großen Leute. Für den menschlichen Wirt und für die Besitzer des Hauses war es bloß eine Lücke in einem Zwischenboden, wenige Fingerbreit hoch und in der Fläche kaum mehr als einen großen Schritt zum Quadrat. Doch für die käfergroßen Gnome war es ein riesiger Versammlungssaal.
  Sie hatten ihn mit winzigen Tischen und Stühlen ausgestattet, mit einer Verschalung, die alle Lücken abdichtete und Spinnen und anderes Geziefer abhielt. An der einen Seite war ein Tresen mit einem Durchbruch nach vorn in die große Schankstube. Zwischen den Bechern und Krügen im Regal waren winzige Gnomenfässchen aufgestapelt. Beuzabar achtete darauf, dass sie stets gut mit Bier und Wein gefüllt blieben.
  Die Gnomenstube war noch besser besucht als der vordere Teil der Schenke. Etwa fünfzig Gnome saßen in großen und kleinen Gruppen beieinander, tranken und debattierten leise oder auch lautstark. Dann und wann legte sich der Lärm aus der großen Gaststube über ihre Gespräche.
  Als Darnamur eintrat, winkten ihm mehrere Gnome zu. Eine Gruppe, die an drei zusammengeschobenen Tischchen saß, rief nach ihm, und einer kam ihm entgegen. Es war Ganoch, Darnamurs Stellvertreter im Bund der Knochenmesser. Wie die meisten Gnome in dem Raum trug auch Ganoch grobe Kleidung in matten Farben, die fast so etwas wie die Uniform der Spähtrupps der Schwarzen Fei Geliuna darstellte. Er trug sein Haar in auffälligen kleinen Zöpfen – jedes Büschel der schütteren Haare auf seinem großen Kopf war einzeln geflochten.
  »War's das?«, fragte er.
  Darnamur nickte schweigend. Gemeinsam mit Ganoch bewegte er sich langsam auf die zusammengeschobenen Tische zu.
  »Du siehst wirklich elend aus«, befand Ganoch. »Wir hätten mitkommen sollen.«
  »Nein«, sagte Darnamur. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit, um Ärger zu riskieren.«
  Ganoch musterte ihn von oben bis unten. »Du bist dem Ärger jedenfalls nicht aus dem Weg gegangen. Du siehst eher so aus, als hättest du vor Wut fast deine Weste gesprengt!«
  Darnamur zuckte die Achseln. »Besser ich als wir alle«, sagte er.
  »Wir haben übrigens Witos Familie in Sicherheit gebracht«, erklärte Ganoch.
  Darnamur blieb überrascht stehen. »Seine Familie?«
  »Seine Frau«, sagte Ganoch. »Seine Kinder. Falls die Fei es auch auf sie abgesehen hat.
  Er und Darnamur tauschten einen Blick, und Ganoch stellte überrascht fest: »Du wusstest es gar nicht! Du wusstest nicht, dass Wito eine Familie hat.«
  »Wir haben nie über so was gesprochen«, gab Darnamur mürrisch zurück.
  »Aber ihr kennt euch seit mehr als zwanzig Jahren! Du warst jahrelang sein Leutnant. Sein Freund!«
  »Es gab nie einen Grund, über persönliche Dinge zu reden.« Es klang, als würde er sich verteidigen. »Wie sollte ich auch wissen, dass Wito neben dem Dienst noch ein geheimes Doppelleben führt?«
  Er versuchte sich an einem Grinsen, aber Ganoch starrte ihn nur verständnislos an. Nach einem kurzen, verlegenen Augenblick ging Darnamur weiter zum Tisch. Die Gnome dort sprangen auf und begrüßten ihren Anführer lautstark. »Hat Ganoch es dir gesagt?«, rief einer. »Die große Neuigkeit?«
  Darnamur sah Ganoch an. »Große Neuigkeit?«
  Ganoch seufzte. »Die Lieferung ist eingetroffen. Wir konnten sie heute Mittag in die Stadt schmuggeln.«
 

»Frafa war dein Name, nicht wahr?«
  Durch eine Seitentür waren die beiden Nachtalben in einen schiefen Turm gelangt, der neben dem Drauzwinkel an der Stadtmauer stand. Im Inneren führte eine schmale Treppe in der Mauer nach oben bis zu einem Erker weit über der Stadt.
  Hier betrieb eine Nachtalbe ein ruhiges Lokal. Sie wirkte kaum älter als Frafa, doch sie hatte grüne Haare, die ihr bis zu den Hüften reichten. Bleidan stellte sie als Litiz vor.
  Das Lokal selbst bestand aus einer kleinen Theke, einem Regal mit großen und kleinen Urnen und Dosen dahinter und einem glänzenden Kessel, unter dem es warm glühte. Eigentümliche Bilder in Rot und Grün hingen an den Wänden, und die Tische und Stühle waren so zierlich, dass Frafa schon Bedenken kamen.
  Bleidan führte sie auf einen breiten Balkon, von dem aus man über den Stadtwall hinweg auf die Ebene dahinter schauen konnte. Die Wirtin brachte unaufgefordert zwei Becher aus feinem Porzellan mit einem dampfenden, schaumigen Getränk. Frafa blickte misstrauisch auf das Gebräu und rührte mit einem winzigen Löffel darin herum. Es hatte die Konsistenz von dünnem Schlick, und auch so ziemlich dieselbe Farbe.
  »Die Politik ist dir natürlich in die Wiege gelegt«, fuhr Bleidan fort.
  »Politik?« Frafa blickte zerstreut zu ihm auf. Sie hatte gehofft, mit ihm über Magie reden zu können.
  Sie hatte gerade an Saira und Tartanis gedacht, das bekannteste Nachtalbenpaar in der Geschichte der Stadt. Sie hatten zwei große Türme an den entgegengesetzten Enden von Daugazburg bewohnt und einander über Jahrhunderte hinweg magische Boten geschickt, fliegende Golems und Riesenfledermäuse, Luftgeister und Dämonen und was ihr zauberischer Erfindungsreichtum sonst noch ersinnen konnte.
  Saira und Tartanis galten als Sinnbild für die Liebe unter den Nachtalben, als ein Beispiel, an dem sich jede romantische Vorstellung ihres Volkes orientierte. Magie stand dabei im Mittelpunkt, denn Magie bestimmte das Leben der Nachtalben.
  Aber vielleicht, befand Frafa, war es auch nur eine Geschichte. Zumindest mussten Saira und Tartanis vor langer Zeit gelebt haben, denn heute kannte man sie nur noch aus dieser Erzählung, und niemand wusste, wo ihre Türme einst gestanden hatten.
  Bleidan sprach von anderen Dingen.
  »War deine Tante nicht Daugrula, die erste Zofe der Herrin? Damit hast du eine Verbindung zum Hof.«
  Frafa nickte eifrig. »Ich wollte bei meiner Tante lernen. Aber sie war zu beschäftigt und hat mich zu Aldungan geschickt. Ich folge dem Weg des Lebens, so wie sie, und ich wollte bei der Besten lernen. Man sagt, Daugrula war so mächtig, dass selbst die Bäume respektvoll zur Seite traten, wenn sie durch einen Wald wanderte.«
  Bleidan lachte. »Sie wird nicht oft einen Wald gesehen haben, hier in Daugazburg. Aber ich kann dir versichern, Aldungan ist auch ein fähiger Lehrherr. Deine Tante hat dich gut untergebracht.«
  »Aber meine Tante war im Palast, und Aldungan sitzt die ganze Zeit im Turm. Keiner von den Mächtigen spricht mit ihm.«
  »Und er nicht mit ihnen.« Bleidan seufzte. »Es ist nicht so, dass die Mächtigen ihn nicht achten. Aldungan selbst ist es, der sich von den Umtrieben bei Hofe fernhält. Er will seine Zeit nicht mit Gesprächen und Intrigen verschwenden, sondern alle Kraft auf seine Forschung richten. Womöglich ist das auch besser so. Ich glaube nicht, dass er in der Politik viel Neues beitragen kann. Aber wenn du Magie lernen möchtest, bist du bei Aldungan am richtigen Ort.«
  Frafa wollte nicht über den alten Aldungan reden. Sie bekam ihn ohnehin kaum zu sehen, obwohl sie seine Schülerin war. »Und was wolltet Ihr auf dem Drauzwinkel?«, fragte sie Bleidan.
  »Vermutlich dasselbe wie du«, sagte Bleidan. »Dabei sein und sehen, was geschieht. Vielleicht etwas lernen.«
  »Was könntet Ihr an diesem Ort schon lernen?«
  »Die Stimmung im Volk beispielsweise.«
  Frafa war enttäuscht. Sie verstand immer weniger, was Bleidan auf dem Platz gewollt hatte. Sie selbst war ja nur zufällig dorthin gelangt, aber das konnte sie unmöglich zugeben.
  »Es ging um die Hinrichtung eines Gnoms!«, sagte sie. »Auf dem Platz standen viele Gnome. Und Menschen. Wen kümmert deren Stimmung?«
  »Du weißt nicht, was für ein Gnom das war?« Bleidan klang enttäuscht, und Frafa schüttelte stumm den Kopf. Sie umklammerte den Becher, erinnerte sich erst jetzt wieder an das Getränk und nahm einen Schluck. Es schmeckte bitter und süß zugleich, mit einem Hauch von Schärfe darin.
  Im ersten Moment verzog Frafa das Gesicht, aber je länger der Geschmack in ihrem Mund blieb, umso angenehmer wurde er. Neugierig tastete sie mit der Zunge danach und nahm einen weiteren Schluck, fast wie unter einem Zwang.
  »Was ist das?«, fragte sie Bleidan und wies auf die Tasse.
  Der hatte soeben die Hand erhoben und den Mund geöffnet, als wolle er weiterreden. Nun hielt er überrascht inne, dann lächelte er. »Xotocl«, sagte er. »Die menschlichen Verbündeten aus dem Süden haben es mitgebracht, als sie Leuchmadans Ruf folgten. Ein stärkender Trank ist es bei ihnen, so bitter wie Medizin. Aber wir Nachtalben fanden heraus, dass es mit den richtigen Gewürzen verfeinert ganz einzigartig schmecken kann. Es hat sich in den letzten zwanzig Jahren überall in Daugazburg verbreitet.«
  Er winkte der grünhaarigen Wirtin zu. Die stand hinter der Theke und rührte Pulver in dampfendes Wasser ein. Sie lächelte zu ihnen herüber und erwiderte Bleidans Geste.
  »Viele Xotoc-Stuben haben seither eröffnet«, fuhr Bleidan fort. »Litiz hier findet für meinen Geschmack die interessantesten Mischungen. Und sie hat ein gutes Gespür dafür, was ihren Gästen munden könnte. Du warst noch nie an so einem Ort? Sie sind beliebt bei jungen Alben.«
  Frafa schüttelte den Kopf. »Ich komme selten aus dem Turm«, sagte sie verlegen. »Ich muss viel lesen«, fügte sie hinzu.
  »Aus den Büchern wirst du nicht erfahren, was heutzutage in Daugazburg vorgeht«, erwiderte Bleidan. »Zum Beispiel dieser Gnom, der verbannt wurde. Das war Wito, einer von jenen Kundschaftern, die bei der letzten Unternehmung deiner Tante dabei waren.«
  »Als Leuchmadans Herz verloren ging?«, fragte Frafa.
  »Wito der Gnom brachte Geliuna das Kästchen, und seitdem hatte er eine Stellung bei Hofe.«
  »Und meine Tante starb und hinterließ mir nichts weiter als einen lebenden Lederschlauch.« Frafas Stimme klang bitter. »Was will ein Gnom am Hof?«
  »Dieser Gnom setzte sich dafür ein, dass sein Volk bei Hofe keine Kuriosität mehr bleibt«, sagte Bleidan. »Er wollte Veränderungen. Posten sollten an alle Völker gleichmäßig vergeben werden. Geliuna sollte die Macht von Leuchmadans Kästchen nutzen, um dem Land Leben zu geben. Das wollte Wito bei Hofe erreichen.«
  Frafa blickte vom Balkon hinunter auf die Ebene. Sie war nicht länger grau wie noch vor einigen Jahren. Man hatte die Pflanzungen darauf ausgeweitet, und inzwischen erstreckten sie sich bis zum Horizont. Haine mit kleinen Bäumen und Feldern, Sträucher, die noch kraftlos und blass aussahen, die aber von Jahr zu Jahr besser gediehen. Regenwolken standen am Horizont und spendeten dem Land Feuchtigkeit, und selbst in Daugazburg gingen inzwischen fast jeden Monat kräftige Schauer nieder.
  »Genau das hat die Herrin doch getan!«, stellte Frafa fest. »Warum wurde der Gnom dann verurteilt? Hat sie etwa bereut, dass sie die Macht des Kästchens nicht für andere Zwecke nutzte und sich von dem kleinen Wicht bereden ließ?«
  Bleidan schüttelte den Kopf. Erheiterung blitzte in seinem Gesicht auf. »Ich glaube kaum, dass ihre Entscheidungen etwas mit diesem Gnom zu tun hatten. Vielleicht hat sie sich mit Wito überworfen, weil ihm das Landbauprogramm nicht weit genug ging. Aber vermutlich ging es eher um die Ziele der politischen Vereinigung, die Wito gegründet hat. Grüne Lande, so nannte sie sich. Aber es ging ihm nicht nur um die Fruchtbarkeit des Landes. Er forderte eine gleichberechtigte Stellung für Gnome neben Goblins und Alben.«
  Frafa lachte auf und legte rasch die Hand auf den Mund, als sie erkannte, dass Bleidan bei diesen Worten ernst blieb.
  »Das mag erheiternd klingen«, sagte der Meisterschüler. »Aber Wito hatte viele Anhänger unter den Gnomen. Und wer weiß? Was uns heute wie ein belustigendes Hirngespinst klingt, mag morgen schon die Grundfesten der alten Ordnung erschüttern. Es gibt inzwischen zahlreiche politische Vereinigungen. Dieser Wito war noch Geliunas kleinster Kritiker ...«
  Bleidan grinste bei dem Bild, aber Frafa lauschte mehr seiner wohlklingenden Stimme und dem Rhythmus der Worte als ihrem Inhalt. Ihre Gedanken schweiften wieder zu Saira und Tartanis. Sie fragte sich, ob Bleidan wohl fliegende Wesen aus Pflanzen wachsen lassen konnte. Sie sah es vor ihrem geistigen Auge, grüne Geschöpfe mit Blütenaugen und Blätterschwingen, die zwischen den Türmen von Daugazburg schwebten und dem Geliebten Zeugnis von der magischen Kunst ihres Schöpfers gaben.
  Wenn es nicht möglich war, solche Wesen zu erschaffen, befand Frafa, dann sollte es sie zumindest geben.
  Sie lächelte, während Bleidan von den politischen Vereinen in der Stadt erzählte und sich über Geliunas umstrittene Entscheidung äußerte, nach Leuchmadans Sturz die menschlichen Verbündeten gehen zu lassen und den Krieg zu beenden. Bleidan sprach von der Einheit der Vielen, dem Wahlspruch der Grauen Lande, und wie derzeit viele versuchten, diesen Worten einen neuen Sinn zu geben – wie Wito, der Gnom, der deswegen verurteilt worden war.
  Frafa ließ sich von seinem Redefluss einhüllen. Sie schaute hinunter auf die Fläche jenseits der Stadtmauer, wo sich der Zollmarkt erstreckte. Die besten Angebote hatte sie wohl schon versäumt. Doch dafür hatte sie eine Bekanntschaft geschlossen, die ihr mehr bedeutete als die Besorgungen für einen Meister, der sich vermutlich nicht einmal mehr daran erinnerte, was er ihr heute Morgen aufgetragen hatte.
  Frafa trank aus ihrem Becher und ließ den Blick von der Landschaft zur Wirtin wandern. Ob Litiz ihre Haare wohl mit Essenzen gefärbt hatte oder mit Magie? Oder gab es tatsächlich grünhaarige Alben? Der Gedanke gefiel ihr.
  »Wenn du dich für diese Dinge interessierst, kann ich dich einmal zu einer unserer Versammlungen mitnehmen«, sagte Bleidan gerade.
Frafa schaute ihn an und lächelte, ließ ihre spitzen Zähne für ihn aufblitzen. »Oh, sehr gern!«, antwortete sie.
 

Darnamur verließ die Gnomenstube im Roten Drachen. Ganoch folgte ihm und auch Dranjar und Batha, zwei weitere Gnome aus Darnamurs Gruppe. Auf der Treppe nahmen sie wieder ihre normale Größe an. Batha sicherte zur Gaststube hin, Dranjar übernahm den Hinterausgang. Die beiden anderen öffneten die Kellertür. Die Gnome überzeugten sich davon, dass niemand sie beobachtete, dann huschten sie die Treppe hinab.
  Sie entzündeten kein Licht. Ihre Nachtsicht und ihr Raumgefühl reichten aus, um sich zu orientieren. Sie stiegen über einen schmalen Rost im Boden, unter dem sich ein dünnes Abflussrohr verbarg. Dahinter führten ein paar weitere Stufen hinab in ein ausgedehntes Kellergewölbe. Hier lagerte Beuzabar seine Vorräte an Wein und Bier.
  »Ich hätte nie geglaubt, dass die Zwerge liefern«, stellte Ganoch fest. »Nachdem wir ihnen verraten haben, wo sie das Gold finden, hatten sie keinen Grund mehr, ihren Teil der Abmachung einzuhalten.«
  »Man muss diese Barttreter zu nehmen wissen«, sagte Darnamur. Ein selbstgerechtes Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. »Zwerge lieben zwei Dinge: Schätze und das Werk ihrer eigenen Hände. Gold horten sie gierig, aber ihre Kunst zeigen sie gern vor und prahlen damit. Hätten wir einen Anteil an dem Schatz verlangt, hätten sie uns hintergangen. Aber wir wollten als Gegenleistung die höchste Kunst ihres Handwerks sehen! Sie hatten keinen Grund, das abzulehnen.«
  Der Boden vor den Fässern war mit Quadersteinen ausgelegt und abschüssig. Er lief auf einen größeren Abfluss zu, einen Schacht, der selbst für Menschen breit genug war.
  Ganoch nahm das Eisengitter heraus und schob es zur Seite. Es schepperte auf dem nackten Stein. Dunkle Eisenwinkel waren in die Schachtwände getrieben worden, eine schmale Stiege, die in die Abwasserkanäle hinabführte.
  Darnamur tastete mit dem Fuß nach der ersten Sprosse, die für einen Gnom sehr tief angebracht war. Dann stieg er hinab. Dranjar und Batha folgten ihm, Ganoch zerrte das Gitter hinter sich wieder über die Öffnung.
  »Ich frage mich doch, ob wir die Reichtümer gut angelegt haben«, murrte er dabei. »Wir hätten sie selbst ausgraben und sinnvoll verwenden können. Genug Gold, um das Reich damit zu kaufen!«
  »Ein Reich«, sagte Darnamur, »kauft man mit Blut.«
  Drei Menschenlängen tiefer hielt er inne und tastete an der gegenüberliegenden Wand nach einer Lücke. Der Schacht führte noch weiter hinunter. Tief unter sich hörte Darnamur den Kanal in der Finsternis gluckern und träge schwappen.
  Seine Füße fanden Halt. Auf der anderen Seite des Schachts war ein Durchlass, so breit, wie ein Gnom lang war, und deutlich höher. Mit einem wagemutigen Satz löste Darnamur sich von der Wand und sprang in den Hohlraum.
  Der Durchlass mündete bald in eine größere Kammer. An einer Seite stapelten sich Fässer und Ballen. Gleich hinter dem Eingang waren Dutzende ebenmäßiger Truhen aufgereiht, in unterschiedlicher Größe, aber allesamt aus glatt poliertem Holz gezimmert und mit festen Beschlägen verstärkt.
  Ganoch trat als Letzter ein. »Heute ist ein trauriger Tag für unser Volk«, sagte er. »Wir haben Wito verloren. Ich wollte unsere Trauer über diesen Verlust nicht mindern, indem wir uns gleich an unseren Neuerwerbungen erfreuen, oder die Freude schmälern, indem sie sich mit dem Schmerz vermischt. Ich hätte dir das hier lieber erst morgen gezeigt. Immerhin war Wito dein Hauptmann. Es tut mir leid, dass diese Schwätzer sich verplappert haben.«
  »Kein Tag wäre besser geeignet, um diese Lieferung entgegenzunehmen«, erwiderte Darnamur grimmig. »Wir sollten sie so rasch wie möglich inspizieren und dann wegschaffen, an Orte, die nur ein Gnom erreichen kann. Lass uns anfangen.«
  Ganoch nahm eine Öllampe von einem Fässchen neben dem Durchgang und entzündete sie. Batha schnupperte. Die Luft hier unten roch faulig und stechend.
  »Wann immer hier eine Flamme angeschlagen wird«, sagte sie, »erwarte ich einen Feuerball.«
  »Beuzabar benutzt dieses Schmugglerloch schon seit Jahren«, entgegnete Dranjar. »Und das Einzige, was seither hochgegangen ist, sind seine Einnahmen.«
  Ganoch und Darnamur achteten nicht auf das Geplänkel ihrer jüngeren Kameraden. Sie traten gemeinsam zur ersten Truhe und klappten den Deckel hoch. Dann schritten sie die ganze Reihe ab, und Darnamur untersuchte die Lieferung ihres verbündeten Zwergenclans aus den Schraffelgraten.
  Der Inhalt einiger Truhen glänzte weiß im Lampenlicht. Das kalte Gebein darin schluckte die gelbe Wärme des Feuerscheins und warf ihn fahlsilbern zurück. Darnamur fand Messer und Dolche und Kurzschwerter; Kurzbögen und kleine Armbrüste mit Schnellspannratschen – der Schaft aus Holz, Bügel und Mechanik ebenso aus silberweißem Knochenmaterial.
  Andere Truhen enthielten Hunderte von Speerspitzen, geschliffen und poliert wie Rasierklingen, daneben Tausende von Pfeilspitzen. Der Inhalt dieser Kästen war nicht nur knochenweiß, zuweilen schimmerte er grau oder metallen wie echtes Silber. Mitunter glänzte es dazwischen auch rot wie Rubin. Darnamur ließ die Pfeilspitzen wie kleine Steine durch die Finger rieseln. Die scharfen Kanten hinterließen Kratzer auf seinen Handschuhen.
  Ganoch zeigte auf eine letzte Kiste, die kleinste in der Reihe. »Selbst die Reste, mit denen man nichts mehr anfangen kann, haben die Zottelfratzen uns mitgeschickt. Sie haben Zahnstocher daraus geschnitten!«
  Darnamur warf einen Blick darauf. »Winzige Speere, die wir nur in unserer kleinen Gestalt benutzen können«, stellte er fest. »Wir können sie nicht als Waffen mitnehmen, aber wir können sie in unseren Verstecken aufstellen. Damit lassen sich zumindest Tiere fernhalten.«
  Er ging wieder Richtung Eingang und blieb dort vor einer Truhe stehen. Er nahm ein Kurzschwert heraus und wog es in der Hand. Es glich von der Machart den Messern, die Wito vor zwölf Jahren für seinen Trupp eingeführt hatte: aus einem einzigen Knochen geschnitten, den Griff für besseren Halt mit Lederriemen umwickelt.
  Allerdings war es viel länger als die Knochenmesser, die Darnamur bisher gesehen hatte, und viel feiner gearbeitet. Die Klinge war schmal und selbst an der dicksten Stelle so dünn wie Pergament. Ein filigraner Handschutz saß zwischen Griff und Klinge, ein Knauf bot der Hand zur anderen Seite hin Halt.
  Es lag gut in Darnamurs Faust. Die Klinge aus Gebein war leichter, als er es von einer Waffe dieser Größe erwartet hatte, und doch vermittelte sie ein beruhigendes Gefühl von Festigkeit. Darnamur wirbelte herum und hieb das Schwert gegen die Wand.
  Funken sprühten. Es knackte und scharrte und Splitter flogen in alle Richtungen. Ganoch trat einen Schritt näher und hob die Lampe. Ihr Schein fiel auf eine frische Kerbe im Stein.
  Darnamur untersuchte die Klinge und fand sie makellos. Er erkannte sogar die feinen Löcher und Kanäle auf der Oberfläche, auf die er großen Wert gelegt hatte – eine Möglichkeit, um die Waffen in Gift zu tränken, damit die Gnome auch in ihrer kleinen Gestalt nicht mehr ohne Stachel waren.
  Darnamur schloss die Faust fester um den Griff und grinste wild. Seine Zähne glänzten so weiß wie das fahle Gebein in den Truhen. Endlich hatte er die Kriegsbeute eingefordert, die ihm rechtmäßig zustand! Genug Waffen, um alle Gnome seiner Gruppe auszustatten, und noch viele mehr.
  Die Zwerge hatten ihm Waffen geliefert, geschnitten aus den Knochen und den Schuppen eines Drachen. Nicht irgendeines Drachen, sondern eines großen Unkwitt, dem Letzten seiner Art. Knochen, die härter waren als Stahl. Aber anders als gewöhnliche Waffen aus Stahl bestanden diese aus einem lebenden Stoff. Ein Gnom konnte sie mitnehmen, wenn er die Größe änderte. Es waren wirkliche Waffen, in groß und in klein zu gebrauchen und leicht an jeden Ort zu bringen, den ein Gnom erreichen konnte.

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