pfeil1

Deleted Scenes

Eine Szene fiel beim Lektorat dem “Schneidemesser” zum Opfer - und wie bei der DVD zum Kinofilm kann der Leser sie hier doch noch finden.

Das Waisenhaus

Als Nächstes erreichte sie ein Waisenhaus. Das war vielleicht nicht ganz der richtige Ort für Chrysonias ...
  Gelegentliche gedämpfte Kinderstimmen klangen auf die Straße, und Baliante atmete auf. Dieser Ort war nicht verlassen!
  Sie trat an die Tür und sah dort noch die Löcher, wo früher einmal ein eiserner Klopfer angebracht gewesen sein musste. Sie benutzte die Faust.
  Es dauerte lange, bis sie sich Gehör verschaffte.
  »Wer ist da?«, fragte ein raue Stimme von innen. Offenbar waren die Betreiber im Waisenhauses ebenso vorsichtig, wie sie es Chrysonias immer einprägte. Und, der Stimme nach zu urteilen, sehr alt. Ob sie mit einem Greis sprach oder mit einer alten Frau, das war nicht festzustellen.
  »Ich ...« Sie räusperte sich. »Baliante ...«
  »Ich kenn' keine Baliante«, unterbrach die Stimme sie. Zwischen den schweren Bohlen der Tür waren einige Lücken, und dahinter erahnte Baliante eine Bewegung. Vermutlich konnte man sie selbst auf der Straße im Licht sehr viel besser durch diese Löcher erkennen.
  »Ich kenn' dich nicht«, wiederholte die Stimme von drinnen. Sie klang nun ein wenig näher und leiser, als würde die Person direkt durch einen der feinen Risse sprechen.
  »Ich möchte jemanden hier abgeben.«
  »Ha, abgeben!« Ihr Gesprächspartner kicherte trocken. »Wenn hier jede Dirne ihren Bankert abgeben könnt', sobald sie ihn selbst nicht mehr durchkriegt, dann können wir hier bald nur noch den Hunger hüten.«
  Baliante bemühte sich, höflich zu bleiben: »Bitte, es geht nicht um ein Kind von mir.«
  »Ah.« Wieder das meckernde Lachen. »Wohl gefunden, was? Und ich seh' gar kein Bündel bei dir.«
  »Ich habe ihn nicht mitgebracht. Ich wollte erst mal fragen ... und irgendwie habe ich ihn tatsächlich gefunden.« Baliante räusperte sich, schaute verlegen umher und hatte das Gefühl, die ganze Straße hörte zu. Aber es war wohl nur ihr eigenes Unbehagen, denn nirgendwo an den anderen Häusern war Bewegung zu sehen, und sie hörte nicht mehr als die Stimme hinter der Tür und die gelegentlichen entfernteren Laute aus dem Waisenhaus. »Es geht eigentlich gar nicht um ein Kind.«
  »Willst du deinen versoffenen Mann loswerden?« Die Stimme hinter der Tür lachte und hustete, und Baliante fühlte den Zorn in sich aufsteigen. Sie kam vielleicht als Bittstellerin, aber sie musste sich nicht verhöhnen lassen.
  »Es geht um einen Schwachsinnigen. Er ist in Lyrnathas zufällig zu mir gestoßen, und ich muss ihn irgendwo sicher unterbekommen. Er ist wie ein Kind, und ich dachte ...«
  Sie verstummte und schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass sie gegen eine Wand einredete - oder eine Tür. Nur das diese Tür sie verspottete.
  »Ah. Jetzt sollen wir schon die Habenichtse von Lyrnathas aufnehmen. Meinst du, wir haben hier keine eigenen?«
  »Ich kann Geld hier lassen.«
  Das Lachen verstummte. Sie hörte einen eisernen Riegel über Holz und Halterungen scharren, dann öffnete sich die Türe, und dahinter kam ein Mann zum Vorschein, der unglaublich alt und unglaublich dürr wirkte. Weißes Haar hing ihm in spärlichen Strähnen über den zerschlissenen Kittel, den er trug. Seine Augen standen groß und feucht im zerschrumpelten Gesicht.
  Ach, dachte Baliante. Geld ist also das Zauberwort.
  Sie griff unter die Tunika und holte den Beutel hervor, den sie dort verborgen hielt. Sie drückte ihn dem alten Mann in die Hand.
  Der wog ihn, blickte kurz hinein und dann zu ihr hin.
  »Das sind viele Argental«, stellte er fest.
  »Du kannst sie behalten, wenn ihr Chrysonias hier aufnehmt.« Er schüttelte langsam den Kopf, und eilig fügte sie noch hinzu: »Ich kann euch noch einmal so einen Beutel dazugeben.«
  Aber der Alte schüttelte noch immer den Kopf. Seine großen Augen hatten einen traurigen Ausdruck. Er hielt ihr die wohlgefüllte Börse wieder hin.
  »Wenn ich ein anderer Mensch wäre«, sagte er, »dann würde ich Euer Geld nehmen und Euren Schwachsinnigen. Wir alle hier könnten wohl ein Oktal davon leben, und vielleicht sogar noch ein zweites Achteljahr. Dann könnte ich den Burschen wieder auf die Straße setzen und wir hätten nichts verloren. Unsere Helfer müssen lange um Spenden betteln, unsere älteren Kinder stehlen und was weiß ich tun, um so viel Geld zu bekommen.«
  Er verstummte. Immer noch hielt er mit seinem dürren Ärmchen Baliante den Beutel hin, doch sie griff nicht danach. Nach einer Pause fuhr der Alte fort: »Doch ein Oktal vergeht, und dann haben wir ein zusätzliches Maul zu stopfen, ohne die Hoffnung, dass irgendwann einmal was aus ihm wird. Und ich bin nun mal kein Mensch, der einen Hilflosen aussetzt. Also, nehmt Euer Geld zurück und kümmert Euch selbst um Euren Schwachsinnigen. Unser Haus ist für die Verlassenen, doch Euer Schützling hat offenbar jemandem, der sich um ihn kümmern kann. Ich würde Gyldara lästern, würde ich ihn da herausreißen.«
  »Aber wir sind keine Familie«, widersprach Baliante. »Er ist mir nur zufällig zugelaufen. Ich kann für ihn nicht die Verantwortung übernehmen!«
  »All unsere Schützlinge laufen uns zufällig zu«, erwiderte der Alte mit einem Blick über die Schulter. »Die Älteren laufen auch wieder fort und kommen nur Abends, um einen sicheren Platz zum Schlafen zu finden. Einen sicheren Platz und etwas zu Essen, das wollen wir ihnen allen geben. Aber das können wir nicht. Das können wir schon lange nicht mehr ...«
  Seine Stimme verklang. Baliante wurde sich bewusst, dass seine Magerkeit nicht naturgegeben war. Offensichtlich sparten die Betreiber des Waisenhauses sich den Unterhalt für die Kinder buchstäblich vom eigenen Munde ab.
  »Neanikis ist kein guter Ort für Mildtätigkeit«, fügte der Greis noch hinzu. »Ich fürchte, Ihr seid die mildtätigste Seele, die Euer Schützling in dieser Stadt finden kann.«
  Baliante schaute noch einmal auf den Geldbeutel in seiner Hand.
  »Behaltet die Münzen«, sagte sie schließlich und wandte sich ab. Sie biss die Zähne zusammen und zwinkerte. Ihr war so schwer zu Mute, und die Gedanken kreisten wirr in ihrem Kopf. Aber sie konzentrierte sich auf ihre Aufgabe und suchte weitere Orte auf, an denen sie Hilfe erwarten konnte.
  Aber so sehr sie auch suchte, der Alte vom Waisenhaus hatte Recht: Wer in dieser Stadt wollte sich um einen fremden Verrückten kümmern, nur weil sie selbst ihn loswerden wollte?

Fotomotive: Ellen Schulz/Achim Fiebes

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