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Leseprobe

... eine Szene aus “Thronräuber”:

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Wind unter den Schwingen und das silberne Schimmern des Mondes darüber. Melheni erhob sich aus ihrem Versteck in den Mangroven-Sümpfen und schwang sich über den Kanal hinweg auf Neanikis zu.
  Von den Sternen perlte eine eisige Kälte herab, doch vom Land unter ihr stieg noch immer schwüle Wärme empor, brachte die Düfte der lebenden Welt mit sich und trug sie sanft der Stadt entgegen. Melheni bewegte die Flügel kaum, sondern ritt auf den Strömungen der Luft und ließ sich über die Mauern und Häuser hinwegtragen.
  Neanikis lag unter ihr wie ein stummer Schattenriss, die weißen Häuser breiteten sich über den Boden wie das Skelett eines bizarren Tieres, durchzogen von Adern aus tiefem Schatten. Die Türme der Oberstadt ragten vor ihr auf.
  Seit ihrem ersten Ausflug war die Ashariel nicht mehr bei Tageslicht zur Oberstadt geflogen. Aber bei Dunkelheit drehte sie regelmäßig ihre Runden, spähte durch die Fenster in die Kammern der Optimaten, in verlassene Flure und Hallen, in die endlosen Geschosse des Palastturmes und seiner Anbauten.
  Doch es war ein Turm, der sie immer wieder anlockte. Der große, düstere, gedrungene Umriss, der sich wie ein breitschultriger Rabauke zwischen seine eleganten und glitzernden Brüder kauerte. Der neue Turm, der unmittelbar an den Palast grenzte.
  Melheni flog einen weiten Kreis um die Oberstadt, einen Kreis, der eigentlich nur diesen einen Turm als Mittelpunkt hatte. Alle ihre Sinne waren angespannt und auf dieses Ziel gerichtet. Sie atmete die Luft, die vom heißen Mauerwerk aufstieg, fing mit ihren Augen den Schimmer und Schein von Kerzen und Lampen; lauschte den schwachen Stimmen, den Gesängen und Beschwörungen aus den verborgenen Kammern der Magier. Der Wind rauschte über die Spitzen ihrer Federn.
  Sie fühlte sich gesund und stark, den Herausforderungen gewachsen. Im Dschungel der Pardir hatte sie viele Schläge eingesteckt bei ihrem Flug unter den Bäumen. Doch inzwischen hatte sich ihr Körper davon erholt.
  Zeit für eine neue Herausforderung.
  Sie zog ihre Kreise enger.
  Dieser Turm war ihre Nemesis. Durch die schmalen Fensterschlitze, die den oberen Rand umsäumten, drangen schwache, farbige und flackernde Lichter nach draußen; doch das war es nicht, was ihr Interesse weckte. In diesen Lichtern schwang etwas anderes mit.
  Ein Schatten und ein unsichtbarer Glanz, den ihre Augen fast schon zu sehen glaubten.
  Ein arkaner Odem, den ihre Nase beinahe riechen konnte.
  Eine Emanation der Macht, die ihre Haut prickeln und die Enden der Federn darüber vibrieren ließ.
  Melheni kam dem Turm näher und ihr Herz schlug schneller, obwohl sie immer noch kaum mit den Flügeln schlug und sich von den Aufwinden tragen ließ. Es war die Angst, die sie spürte!
  Sie lauschte in sich hinein. Sie konnte die Angst fühlen, wie sie aufstieg, den Pulsschlag beschleunigte, wie sich Furcht vom Magen her ausbreitete und zu Kopfe stieg. Melheni ergriff die Angst, kontrollierte und verwandelte sie, machte sie zu einer Droge, einem Lebenselixier.
  Sie fühlte sich stark.
  Sie fühlte sich gut, besser noch als bei den wilden Empfindungen, die ihren Leib während des waghalsigen Fluges durch den Dschungel durchströmt hatten.
  Ja, sie beherrschte ihre Angst, und das Zentrum dieser Angst war der Turm! Sie konnte förmlich spüren, dass dieses Bauwerk von machtvoller Zauberei durchdrungen war; und dass etwas darin lauerte.
  Dämonen, die den Kerker des rechtmäßigen Trodinars der Stadt bewachten, wie es die Menschen dort unten annahmen? Melheni wusste es nicht. Doch sie würde Neanikis nicht verlassen, ehe sie es nicht herausgefunden hatte, ehe sie sich nicht dem Quell ihrer Angst gestellt und ihn überwunden hatte. Ihre Nemesis. Ein Gegner, dessen Gesicht sie noch nicht kannte, aber dessen Gegenwart sie spürte. Eine Herausforderung, an der sie nicht vorüberfliegen konnte.

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Anmerkungen des Autors zu der Szene: Als ich noch einmal die Druckfahnen des Romans durchgelesen habe, fiel mir diese Szene besonders ins Auge. Relativ wahllos mitten aus dem Roman herausgegriffen, hatte sie doch etwas sehr Eigenständiges an sich: Sie wirkte beinahe wie ein Prolog, losgelöst von der eigentlichen Handlung und doch mit zahllosen Verweisen und Anspielungen auf wichtige Elemente des Romans. Ich dachte mir gleich: Das ist die Leseprobe, der Auszug aus dem Roman!
  Es ist gewiss keine auffällige Actionsequenz, sondern eher eine ruhige, atmosphärische Szene. Wenn ich sie wieder lese, wirkt sie fast träumerisch auf mich. Ich hoffe, dass sie nicht nur einige Formulierungen enthält, die mir als Autor gefallen, sondern dass sie auch für den Leser etwas von der Essenz des “Thronräubers” transportieren kann.

Fotomotive: Ellen Schulz/Achim Fiebes

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