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Leseprobe: Die Nebelburg (Linda Budinger)
Prolog
Gellende Schreie. Waren die Greifen in Gefahr? Schemenhafte Gestalten kamen immer näher und lechzten nach Daphnes Blut. Wo war die Klinge? Vergeblich fasste sie an das leere Schwertgehenk. Die Riemen griffen, von eigenem Leben erfüllt, nach ihrer Hand und fesselten sie. Aus dem Dunkel schälten sich die Umrisse der anrückenden Ungeheuer. Gleich waren sie bei ihr, mit scharfen Zähnen und langen Krallen! Daphne schützte Gesicht und Kehle mit ihrem freien Arm. Plötzlich riss ein Ruck ihr fast den Schwertarm aus dem Gelenk. Schlagartig erwachte sie. Die eben noch bleischweren Lider flogen auf, und Daphne wurde gewahr, dass sie geträumt hatte. Sie hatte nur kurz im Sitzen den Kopf an den Stamm der Eiche gelehnt und die Augen geschlossen. Dabei musste sie eingedöst sein. Ihr rechter Unterarm war immer noch gefesselt – richtig, der Zügel der Stute. Daphne wickelte den Lederriemen stets um ihr Handgelenk, damit die kleinste Bewegung des Pferdes sie weckte. Schlafen bedeutete hier im Verwunschenen Wald den Tod. Die Stute wieherte schrill. »Ist ja gut, Rose.« Das Pferd schnaubte angsterfüllt und blähte die Nüstern. Einige Tropfen Speichel sprühten in Daphnes Gesicht. Unruhig ruckte die Stute am Zügel. »Ganz ruhig, Mädchen.« Daphne biss sich auf die Lippe. Ihre Stimme klang viel zu aufgeregt, um das nervöse Tier zur Ruhe zu bringen. Das konnte gefährlich werden. Ein Reiter sollte in jeder Situation Herr der Lage sein. Der Zügel war straff gespannt, und Daphne konnte ihn weder abstreifen noch aufstehen. Rose hatte offensichtlich Angst. Aber wovor? Unbeholfen zog die junge Frau mit der Linken das Kurzschwert, um den Zügel kurzerhand zu durchschneiden. Da machte das Tier unerwartet einen Schritt auf sie zu. Daphne nutzte die Gelegenheit. Ehe die tänzelnde Stute sie zwischen sich und dem Baum einklemmte, löste Daphne hastig den nun lockeren Lederriemen und gab dem Tier einen Klaps mit der flachen Hand. Sie sprang auf. Die Fuchsstute wich augenrollend zurück und zog den Zügel aus Daphnes leichtem Griff. Rose hatte Trost von ihrer Herrin erhofft, keine Schläge. Mit einer raschen Bewegung wollte Daphne die Zügel wieder ergreifen, doch ihre Beine waren schwer, und sie stolperte über eine Baumwurzel. Die Stute wich weiter zurück. In der Dunkelheit leuchtete ihre blütenförmige Blesse wie ein Geisterauge. Dunkelheit? Daphne musste länger geschlafen haben, als angenommen. Sie hatte sich nur kurz ausruhen wollen, und da war es noch lichter Tag gewesen. Müdigkeit nistete hinter Daphnes Stirn, klebte zäh wie Spinnweben in ihrem Geist. Seit sie diesen verfluchten Forst betreten hatte, wagte Daphne nur selten eine Rast – vor einem Lagerfeuer, das wenigstens die Tiere, wenn schon nicht ihre Ängste verscheuchte. Doch die Flammen zu ihren Füßen waren niedergebrannt, und die Glut bildete nur noch eine Pfütze wabernden Lichts auf dem Waldboden. Wieder erscholl ein erschrockener Laut von der Stute. Daphne hatte das Pferd aus den Augen verloren. Sie hob die Faust mit dem Kurzschwert. Wo war Rose abgeblieben? In der Schwärze ringsum erkannte Daphne zunehmend mehr von der Umgebung. Schlichen da nicht graue Schatten in einigen Schritten Abstand um die Lagerstelle? Daphne erinnerte sich an ihren Traum und die Ungeheuer. Aber diese Geschöpfe hier waren kleiner und bewegten sich auf vier Beinen fort. Wölfe! Aber keine scheuen Wesen, sondern mordlüsterne Bestien, wie sie ihr bereits zweimal in diesem Wald begegnet waren. Leise fluchte sie. Die Kreaturen jagten nur bei Dunkelheit, weshalb Daphne sie Nachtwölfe getauft hatte. Es knackte im Gebüsch, und da war auch Rose wieder. »Komm, Kleine! Komm her«, versuchte Daphne die Stute zu locken. Das verängstigte Pferd machte einige zögerliche Schritte auf sie zu, schreckte dann aber erneut zurück und bleckte die Zähne. Nur ihre gute Ausbildung verhinderte, dass die Stute ihrem Instinkt folgte und die Flucht ergriff. Der Kreis der Wölfe wurde enger. Einer von ihnen sprang zwischen Stute und Feuer und scheuchte das Tier von Daphne fort. Die junge Frau hechtete vorwärts. Ihre Klinge malte einen Bogen in die Luft, verfehlte aber den Wolfskörper um Handbreite. Daphnes gezerrte Schultermuskeln schmerzten bei dem ausgreifenden Schlag. Kein guter Anfang. Dennoch setzte sie der Stute weiter nach und merkte zu spät, dass sie damit die Deckung des Baumes verließ. Etwas schoss durch die Nacht. Wieder ein Wolf. Das Tier schnellte auf sie zu wie ein Pfeil von der Sehne. Daphne vergaß die lädierte Schulter. Ihr Schwert stieß herab und durchbohrte den Angreifer. Sie zerrte die Klinge heraus, bevor das Gewicht des stürzenden Wolfes ihr die Waffe aus der Hand riss. Konnte Helligkeit die lichtscheuen Angreifer vertreiben? Mit dem Fuß schob Daphne Reiser auf die Glut, wo sie binnen eines Herzschlags entflammten und die Szenerie in flackerndes Gelb tauchten. Zu spät! Der Mut sank ihr beim Anblick des Wolfsrudels, das zwischen ihr und Rose lauerte. In den grün schimmernden Augen ihrer Gegner fand Daphne keine Gnade. Sie wünschte sich einen Greif an die Seite, der sich mit Schnabel, Krallen und Flügeln zur Wehr setzen konnte. Aber sie hatte nur das Pferd in den Wald mitnehmen können, und das wollte sie auf keinen Fall verlieren. Das Feuer hielt ihr die Wölfe vom Leib, doch Rose stand zu weit von den schützenden Flammen entfernt. Schon umringten einige Jäger die Stute. Sie zogen ihre Kreise und drängten Rose immer weiter ab. Der Rest des Rudels hielt Daphne in Schach. Ungeachtet aller Gefahr gab sie schließlich den Schutz der Flammen auf. Die Fuchsstute war weit mehr als ein bloßes Reittier: Sie war eine Gefährtin, die Daphne nicht im Stich lassen durfte! Zwei Nachtwölfe kamen von der Seite an sie heran und verwickelten sie in einen Nahkampf. Daphne wehrte den ersten ab, doch der zweite fasste ihren Mantelsaum und zerrte sie fast von den Beinen. Erst als die Klinge auf ihn niedersauste, ließ er den Stoff fahren. Daphne war frei und stürmte vorwärts. Die Fuchsstute focht derweil ihren eigenen Kampf. Irgendwo hatte sich der schleifende Zügel verfangen. Mit tödlichen Tritten hielt Rose die Peiniger auf Abstand, doch die Gegner waren zu zahlreich. Ein geduckter Schatten schlich sich längs der Büsche an, federte hoch und verbiss sich in Roses Nacken. Weitere Wölfe folgten ihm. Gemeinsam brachte die Meute die Stute zu Fall, ehe Daphne eingreifen konnte. Das Todeswiehern des treuen Reittiers schnitt ihr ins Herz. Ein Reisigfeuer erlosch so rasch, wie es aufflammte. Lange konnte es also nicht mehr halten. Daphne musste die verbleibende Frist nutzen, und die tote Stute sollte ihr dabei einen letzten Dienst erweisen. Die Wölfe hatten in ihrer Fressgier die tödliche Schlinge um Daphne gelockert. Die schwang nun das Kurzschwert wie eine Sense, sprang über gedrungene Leiber und wich Fängen aus. Das tote Pferd lag vor ihr. Noch vier Schritte, drei ... Daphne hörte es in ihrem Rücken rascheln und scharren. Die Jäger sammelten sich zum Angriff. Mit einem gewaltigen Satz sprang Daphne vor, trat auf den Sattel und riss eine der dort befestigten Taschen an sich. Dann katapultierte sie sich von der erhöhten Position aus zur anderen Seite, über den Wolfskreis hinweg. Sie presste die Tasche an die Brust und stob in heilloser Flucht vor der Übermacht davon. Es war ihre Rettung, dass das Rudel nach einer Weile die Verfolgung aufgab und zu der bereits gerissenen Beute zurückkehrte. Daphne eilte weiter durch die Nacht, aus Furcht, die Bestien würden ihr doch noch nachsetzen. Erst gegen Morgengrauen erlaubte sie sich eine kurze Rast und einige Tränen um Rose. Dabei machte sie Bestandsaufnahme. Sie hatte die falsche Tasche erwischt. In dem geborgenen Gepäckstück befand sich lediglich Verbandszeug und Kleidung zum Wechseln. Ihr Proviant sowie der Wasserschlauch waren mit der Stute verloren gegangen. Ganz zu schweigen von ihrem warmen Kapuzenumhang, dem Seil und dem Zunderkästchen. Verzweiflung überwältigte die junge Frau. Sie war ohne Ausrüstung und allein mitten im Verwunschenen Wald unterwegs.
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